Sigmund Rascher, Stabsarzt der Luftwaffe im Dritten Reich, schreibt an Heinrich Himmler, Reichsführer SS: Er will „Versuche mit Menschenmaterial“ durchführen. Es könnten auch Schwachsinnige sein, freiwillig würde sich ohnehin keiner melden.
Rascher ist einer von rund 350 Ärzten, die in der Zeit des Nationalsozialismus Wissenschaft betreiben, die grundlegend gegen Hippokratischen Eid und Menschenrecht verstoßen. Patienten in Pflege- und Heilanstalten sowie Häftlinge in Konzentrationslagern werden als Untermenschen angesehen und zu Forschungszwecken missbraucht.
Sie sind – wie es Rascher formuliert – lediglich „Material“, Objekte, die ohne Skrupel benutzt werden und deren Tod billigend in Kauf genommen wird. Beim „Euthanasie“-Programm wird sogar gezielt gemordet.
Versuche für militärische Zwecke
Rascher führt ab 1941 im KZ Dachau für militärische Zwecke Höhen- und Unterkühlungsversuche durch. Häftlinge müssen stundenlang in eiskaltem Wasser oder bei Minustemperaturen im Freien ausharren. Rascher will herauszufinden, wie sie wieder am besten aufgewärmt werden können. Diese Erkenntnisse sollen Soldaten nach Seenot-Rettungsfällen nützen.
Viele der unfreiwilligen Probanden sterben. „Lieber Rascher“, schreibt Himmler an seinen SS-Mann im Oktober 1942: „Leute, die heute noch diese Menschenversuche ablehnen, lieber dafür tapfere deutsche Soldaten an den Folgen dieser Unterkühlung sterben lassen, sehe ich auch als Hoch- und Landesverräter an . . .“
Diese Menschenversuche stehen beim Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher ab November 1945 und beim ersten der insgesamt zwölf Nachfolgeprozesse im Mittelpunkt. Ab Dezember 1946 sitzen 19 Ärzte, eine Ärztin sowie hohe NS-Funktionäre auf der Anklagebank.
Sigmund Rascher muss sich nicht mehr vor dem amerikanischen Militärgericht für seine Taten verantworten. Er war wegen eines anderen Vergehens bei Himmler in Ungnade gefallen und wurde auf dessen Befehl kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs hingerichtet, dort, wo er so viele Morde begangen hatte – im KZ Dachau.
Sieben Angeklagte werden zum Tode verurteilt
Im Nürnberger Ärzteprozess fallen am 20. August 1947 die Urteile – vor genau 70 Jahren. Sieben der 23 Angeklagten werden zum Tode verurteilt, neun erhalten langjährige Haftstrafen, fünf davon „lebenslänglich“. Sieben werden freigesprochen, weil man ihnen eine direkte Beteiligung an den Verbrechen nicht nachweisen kann.
Es stehen 15 Medizinverbrechen am Pranger, etwa Malaria-, Senfgas-, Fleckfieber- oder Giftexperimente. Ebenso Sterilisationsmethoden, unter anderen durch Röntgenstrahlen, sowie das „Euthanasie“-Programm. Für dieses muss sich der Begleitarzt Hitlers und Generalkommissar für das NS-Sanitäts- und Gesundheitswesens, Karl Brandt, verantworten. Er ist der ranghöchste Angeklagte; der Prozess ist nach ihm benannt, die offizielle Bezeichnung lautet: „Vereinigte Staaten vs. Karl Brandt et al.“
Die Auswahl der Angeklagten stellt laut Alexander Mitscherlich nur die Spitze des Eisbergs dar. Der Arzt und Psychoanalytiker ist einer der von der westdeutschen Ärzteschaft beauftragten Prozessbeobachter. Was er im Schwurgerichtssaal 600 hört und sieht, erschüttert ihn nachhaltig. Es sind „Untaten von so ungezügelter und zugleich bürokratisch-sachlich organisierter Lieblosigkeit, Bosheit und Mordgier, dass niemand sie ohne tiefste Scham darüber zu lesen vermag, dass Menschen zu solchem fähig sind“, schreibt er 1960 im Vorwort der Neuauflage seiner Chronik „Medizin ohne Menschlichkeit“.
Erstmals wird sie 1949 unter dem Titel „Wissenschaft ohne Menschlichkeit“ veröffentlicht – und damals kaum beachtet. Mitscherlich und sein Mitautor Fred Mielke werden jedoch heftig von angesehenen Ärzten angegriffen. Erst in den 1960er und besonders ab den 1980er Jahren beginnt in Deutschland die Aufarbeitung des Themas „NS-Medizin“.
Thomas Schmelter stellt sich heute noch die Frage: „Wie konnte das damals passieren?“ Der Oberarzt am Krankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin Schloss Werneck bezeichnet einen Teil der Angeklagten als „sehr intelligente, begabte, kundige Ärzte“. Und dennoch hätten sie elementare ethische Grundsätze verletzt und dabei ihr Gewissen beschwichtigt.
Verletzung elementarer ethischer Grundsätze
Schmelter beschäftigt sich seit Jahren mit der NS-Medizin und der Geschichte seines Arbeitsplatzes beziehungsweise der einstigen Heil- und Pflegeanstalt. Vor wenigen Wochen erst hat er eine Tagung des Arbeitskreises zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie“ und Zwangssterilisation nach Werneck geholt.
Auch zum Nürnberger Prozess macht er sich seine Gedanken. Etwa darüber, warum alle Angeklagten beim Prozess auf: „Nicht schuldig!“ plädieren.
Laut Schmelter rechtfertigen sie sich damit, „dass die Versuche am Menschen letztlich einer guten Sache gedient haben“. Dem liege eine „utilitaristische Ethik“ zugrunde im Sinne von: „Wenn es vielen Leuten nutzt, dann ist es in Ordnung, wenn eine kleine Gruppe oder Einzelne darunter leiden.“ Zudem hätten die Angeklagten die NS-Doktrin von „wertlosen“ beziehungsweise „lebensunwerten Menschen“ verinnerlicht und dabei die unantastbare Würde des Menschen ignoriert, so Schmelter.
Qualvolle Experimente im KZ Ravensbrück
Auch die einzige Frau auf der Anklagebank denkt in diesen Kategorien. Die Ärztin Herta Oberheuser arbeitet im KZ Ravensbrück und bezeichnet die gefangenen Frauen als „Kaninchen“. Ihr Vorgesetzter Karl Gebhardt, Chirurg und Leibarzt Himmlers leitet unter anderen die Experimente mit Antibiotika. Meist sucht Oberheuser Polinnen dafür aus. Ihnen werden die Waden aufgeschnitten und die Wunden mit Bakterien, Holzstücken und Scherben verunreinigt.
Der Versuch simuliert Verletzungen durch Bomben. Erprobt werden die Heilung dieser Wunden sowie die Verhinderung von Blutvergiftungen bei Soldaten.
Viele der „Versuchskaninchen“ sterben qualvoll. Etliche soll Oberheuser mit Benzininjektionen von ihrem Todeskampf „erlöst“ haben und einer Angehörigen eines Opfers gesagt haben, dass die Frau ja nur ein unnützer Esser gewesen sei und ohnehin nicht überlebt hätte.
Das Strafmaß für Oberheuser – „lebenslänglich“ – dauert im Nachkriegsdeutschland gerade mal fünf Jahre. Nach ihrer Entlassung 1952 eröffnet sie eine Praxis in Schleswig-Holstein. Als KZ-Überlebende ihre einstige Peinigerin erkennen und anzeigen, dauert es bis 1958, bis Herta Oberheuser endgültig die Approbation entzogen wird.
„Du bist ein Leben, aber kein Mensch“
Bereits vor den Nationalsozialisten seien Gedanken über Leben, das niemandem nütze oder nichts wert sei, aufgekommen, sagt Thomas Schmelter. Von besonderer Bedeutung sei die Abhandlung „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens: Ihr Maß und ihre Form“ (1920) des Juristen Karl Binding sowie des Psychiaters und Neurologen Alfred Hoche.
„Diese Rede vom Lebenswert ist im Kern ökonomisch. Da gibt es welche, die sind mehr wert, andere weniger. Manche haben sogar einen negativen Wert und sind im Minus – sie rechnen sich nicht mehr.“ Sie verwendeten laut Schmelter auch den Begriff „Lebensträger“, das heißt: „Du bist zwar Leben, aber kein Mensch.“ Diese Konsequenzen einer solchen Anschauung wurden unter den Nationalsozialisten brutal umgesetzt.
Gehorsam und Abgabe der Verantwortung
Der angeklagte – und freigesprochene – Luftwaffenmediziner Siegfried Ruff macht in Nürnberg eine Unterscheidung zwischen juristischen und ethischen Gesichtspunkten, als er zu den Experimenten Raschers befragt wird. Er wusste von ihnen, unterband sie aber nicht. Juristische Bedenken, an KZ-Häftlingen zu experimentieren, habe er nicht gehabt, „denn ich wusste, dass der Mann, der die Genehmigungen zu diesen Versuchen von Staatsseite aus gegeben hatte, Himmler war“. Etwas anderes sei die ärztlich-ethische Seite. „Hier war das Angebot für uns, an Häftlingen Versuche durchzuführen, etwas völlig Neues.
“ Mit diesem Gedanken hätten sich er und auch der Mitangeklagte Hans-Wolfgang Romberg, Abteilungsleiter unter Ruff, erst einmal vertraut machen müssen.
In dieser Aussage werden für Schmelter zwei Punkte deutlich: „Gehorsam gegenüber den Entscheidungsträgern und Abgabe der Verantwortung“. Die Ärzte rechtfertigen sich gerne mit dem Argument: „Ich mache ja immer nur einen kleinen Teil, bin ja nur ein Rädchen im Getriebe und muss nicht wissen, warum. So ließ sich das Gewissen beschwichtigen – etwa bei der Ausfüllung des so harmlos erscheinenden „Meldebogens“ bei der „Euthanasie“-Aktion.
„Wissenschaftsethik verliert Menschen aus dem Blick“
„Darüber hinaus hat auch die Aufspaltung zwischen Wissenschaft und ärztlichem Handeln es den Medizinern leichter gemacht, Versuche an Menschen durchzuführen“, ist Schmelter überzeugt. „So haben sie die menschliche Begegnung zwischen Arzt und Patient ausblenden können.“ Doch das entspreche nicht ärztlicher Ethik, das sei eine Wissenschaftsethik, die den Menschen als Gegenüber aus dem Blick verliere. Der Wernecker Mediziner befürchtet: „Dass im Namen der Wissenschaft und um der Therapie willen Mitmenschen zum Objekt gemacht werden, diese Gefahr besteht auch heute.“
Für Schmelter ist die Beschäftigung mit NS-Zeit und NS-Medizin hilfreich, „gerade, weil heute das Ideal des Makellosen, der Optimierung, des Leidfreien und auch der Erlösungsgedanke bei schwersten Krankheiten wieder mehr diskutiert wird“. Ihn erinnert das an die Überzeugung, dass Leid oder Krankheiten aus der Welt verschwinden, wenn man sie laut Nazijargon rigoros „ausmerzt“.
Diese Frage der Auslese stelle sich heute ja für Eltern bereits bei der vorgeburtlichen Diagnostik. „Was wir jedoch brauchen, ist gegenseitige Unterstützung, um schwer Aushaltbares zu ertragen. Beschäftigung mit der NS-Zeit kann uns dafür sensibilisieren, was radikale Auswege bedeuten können.“
Auch das Kosten-Nutzen-Denken sei bereits stark fortgeschritten, meint Schmelter. Denn beziehungsorientiertes Handeln in der Medizin gehe nur mit ausreichend Personal. Doch dem stehe die Ökonomisierung der Medizin entgegen. „Wir brauchen aber eine beziehungsorientierte Medizin. Im Schutz von Beziehungsorientierung kann der Gefahr besser begegnet werden, dass Menschen nur zu wissenschaftlichen Objekten werden.“
Nürnberger Kodex
Daran haben auch die Richter des Ärzteprozesses gedacht, als sie den „Nürnberger Kodex“ formulierten, eine ethische Richtlinie für die Durchführung von medizinischen Versuchen. Sie beginnt mit dem Satz: „Die freiwillige Zustimmung der Versuchsperson ist unbedingt erforderlich.“ Und endet mit: „Im Verlauf des Versuchs muss der Versuchsleiter jederzeit darauf vorbereitet sein, den Versuch abzubrechen, wenn er (...) vermuten muss, dass eine Fortsetzung des Versuchs eine Verletzung, eine bleibende Schädigung oder den Tod der Versuchsperson zur Folge haben könnte.“ Foto: Anand Anders