Auf dem Foto aus dem Jahr 1935 sind mehrere Frauen zu sehen. Es sind Patientinnen der Heil- und Pflegeanstalt Werneck. Im Vordergrund lacht eine junge Frau scheinbar unbeschwert in die Kamera. Dr. Thomas Schmelter, Oberarzt am Krankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin Schloss Werneck, erzählt ihre Geschichte.
Die Frau litt unter einer psychotischen Verwirrung. Sie war nicht lange in der „Kreis-Irrenanstalt“. Kurz nachdem das Foto entstanden war, wurde sie entlassen, da sich ihr Zustand besserte. Sie behielt jedoch eine lebenslange Erinnerung an ihren Aufenthalt: Die 23 Jahre alte Frau wurde zwangssterilisiert. 1992, fast 60 Jahre nach ihrer Einweisung, kam sie erneut nach Werneck. Der „Makel“, mit dem sie seit 1935 leben musste, hatte sich tief in ihre Seele gebrannt.
Thomas Schmelters Vortrag über „Psychiatrie im Nationalsozialismus: Das Schicksal der Patienten in der Heil- und Pflegeanstalt Werneck und Lohr“ beschloss die vor wenigen Tagen zu Ende gegangene Ausstellung „Ich. Mein Selbst. Selbstbilder aus psychiatrischen Anstalten“ im Martin-von-Wagner-Museum in der Würzburger Residenz. Fast 1800 Besucher kamen, um die Bilder aus der Sammlung Prinzhorn zu sehen. Sie stammen von neun Patienten. Das Schicksal dieser Männer musste die junge Frau nicht teilen. Alle wurden in NS-Tötungsanstalten vergast.
Die systematische Ermordung psychisch Kranker unter den Nationalsozialisten erfolgte nicht plötzlich. Schmelter stellte die „ideengeschichtliche Entwicklung“ vor, die im 19. Jahrhundert ihren Anfang nahm und in der NS-Zeit zum „dunkelsten Kapitel der Psychiatrie“ wurde.
Die Industrialisierung führte laut Schmelter zu tief greifenden gesellschaftlichen Veränderungen: „Die Auflösung großfamiliärer Strukturen und die Trennung von Wohnort und Arbeitsplatz hatten auch Konsequenzen für psychisch kranke Patienten.“ Sie seien sonst im familiären Kontext versorgt worden. Fortan übernahmen dies zum Beispiel Arbeitshäuser. „Dort wurde viel gesponnen“, so Schmelter, daher komme die Bezeichnung: „Der oder die spinnt.“
Die Psychiatrie, damals noch ein relativ junges Fachgebiet, habe versucht, Anschluss an den Fortschritt der Medizin zu finden und stellte ihrerseits die Frage nach dem „Wie behandeln?“ Wie könnten Erbkrankheiten vermieden, eine leidensfreie Gesellschaft verwirklicht werden? Wobei der Kostenfaktor bereits damals eine Rolle gespielt habe, so Thomas Schmelter. Der Zoologe Ernst Haeckel etwa schrieb 1904 in seinen „Die Leidenswunder“ betitelten philosophischen Studien von einem Akt des Mitleides und der Vernunft: „Wie viel von diesen Schmerzen und Verlusten könnte gespart werden, wenn man sich endlich entschließen wollte, die ganz Unheilbaren durch eine Morphium-Gabe von ihren namenlosen Qualen zu befreien!“
Der Psychiater August Forel, der laut Schmelter wie Haeckel kein Vorläufer des Nationalsozialismus war, bekundete 1905 in seiner Abhandlung über „Die sexuelle Frage“: „ . . . wir bezwecken keineswegs eine neue menschliche Rasse, einen Übermenschen zu schaffen, sondern nur die defekten Untermenschen . . . durch die willkürliche Sterilität der Träger schlechter Keime zu beseitigen und dafür bessere, gesündere und glücklichere Menschen zu einer immer größeren Vermehrung zu veranlassen.“ 1920 dann erschien die folgenreiche Schrift „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ der Professoren Karl Binding und Alfred Hoche; der eine war Jurist, der andere Mediziner. Sie sind die Urheber von Bezeichnungen wie „geistig Tote“ oder „wertlose Existenzen“. Die Nationalsozialisten setzten diese Überlegungen brutal um: 1933 mit dem Sterilisierungsgesetz. Laut Schmelter wurden auf Grundlage dieses Gesetzes bis 1945 400 000 Menschen sterilisiert.
Der „zweite Radikalisierungsschritt“, so Schmelter, war ab 1940 die Ermordung Kranker durch die „Aktion T4“, benannt nach der Adresse der Tarnorganisation in der Tiergartenstraße 4 in Berlin. Maßgeblich beteiligt an der NS-„Euthanasie“ war als medizinischer Leiter und Obergutachter Werner Heyde, damals Direktor der Würzburger Psychiatrie.
Viele Menschen wurden doppelt zum Opfer wie Wilhelm Werner, Patient der Pflegeanstalt Werneck. Er wurde zwangssterilisiert und 1940, als die Anstalt geräumt wurde, direkt in die Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein gefahren und dort ermordet. Andere Wernecker kamen in die Anstalt nach Lohr, ein Teil starb dann in den Gaskammern der Tötungsanstalten. Insgesamt fielen zwischen 1940 und 1941 über 70 000 Menschen der NS-Euthanasie zum Opfer.
Sterilisation und Tötung
Unter den Nationalsozialisten wurden 227 Patientinnen und Patienten der Heil- und Pflegeanstalt Werneck und mindestens 188 der Heil- und Pflegeanstalt Lohr zwangssterilisiert.
Anfang Oktober 1940 erfolgte die Räumung der Anstalt Werneck. 760 Patienten wurden verlegt: 471 nach Lohr, 146 in die „Zwischenanstalten“ Großschweidnitz, Arnsdorf, Niedernhart, 143 in eine „unbekannte Anstalt“: die Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein. Insgesamt gab es laut Thomas Schmelter, Oberarzt in Werneck, 746 (+2) „Euthanasie“-Opfer.