Es ist sein 41. Geburtstag. Trotzdem nimmt sich Sebastian Dürnagel an diesem 2. März Zeit für ein Interview. Im Stadion am Dallenberg spricht er darüber, worüber immer noch sehr wenige in seiner Branche sprechen: Wie es ist, im Profifußball psychisch zu erkranken.
Unter dem Motto "Kickers gegen Depression" veröffentlichte der Würzburger Fußball-Drittligist im Februar eine Reihe von Beiträgen über die Volkskrankheit. Dürnagel gab ihr ein Gesicht. Der gebürtige Rothenfelser (Lkr. Main-Spessart), früher Profi beim 1. FC Nürnberg, ist Torwarttrainer im Leistungszentrum des Klubs; zeitweise war er auch für die Frauen zuständig.
Dürnagel, hauptberuflich Gebietsverkaufsleiter im Außendienst einer Medizin-Firma, ist einer von zehn bis 20 Prozent der Menschen in Deutschland, die im Laufe ihres Lebens von einer depressiven Episode betroffen sind. "Bei 5000 Besucherinnen und Besuchern in der Arena werden also etwa 50 bis 100 selbst erkranken, zwei- bis dreimal so viele werden durch andere mit dem Thema in Berührung kommen", sagt er.
Im Interview spricht der Vater zweier Töchter über seine Depression – ihre Ursachen, die Therapie im Bezirkskrankenhaus (BKH) Lohr und Profifußball als Nährboden für psychische Erkrankungen.
Sebastian Dürnagel: Vor allem, dass ich gesundheitlich so stabil bleibe, wie ich mich aktuell fühle.
Dürnagel: Ja, da war ich schon etwas über zwei Wochen in der Klinik. Die Akutphase, in der ich eingebettet und etwas zur Ruhe gekommen war, war zu Ende, ich fing langsam wieder mit ersten Aktivitäten an. An dem Tag bekam ich Besuch von meinem Bruder mit Frau aus Berlin, meiner Mutter mit ihrem Partner, meiner Lebenspartnerin und meinen beiden Töchtern. Sie brachten Luftballons und Kuchen mit, mit den Kindern gingen wir dann zu einem Pferdehof, der mit der Klinik zusammenarbeitet. Auf der einen Seite war es ein ganz schöner Tag, auf der anderen Seite war ich auch traurig, weil ich mich gefragt habe: Warum hat es mich getroffen? Dem bin ich in Therapiegesprächen mit Psychologen nachgegangen.
Dürnagel: Zum einen ist in der Klinik ein Kindheitstrauma hochgekommen, das ich noch nicht verarbeitet hatte. Zum anderen kamen Lebensereignisse dazu – Thema Fußball.
Dürnagel: Auf dem früher mein ganzes Leben aufgebaut war. Ich bin mit 13 schon zum Würzburger FV gewechselt und hatte den Ehrgeiz, weit zu kommen. Mit 16 bin ich zum 1. FC Nürnberg, allein in die große Stadt. Zu der Zeit gab es noch keine Begleitpersonen, ich war recht auf mich allein gestellt. Aber ich träumte davon, in der Bundesliga Karriere zu machen. Erst lief es auch sehr gut. Ich war drei Jahre lang dritter Torwart unter Klaus Augenthaler. Aber immer, wenn der nächste Schritt anstand, hatte ich eine schwere Verletzung. Schon damals sagte mir ein Physiotherapeut, dass mein vegetatives Nervensystem komplett überlastet war – vielleicht meine erste depressive Episode. Heute weiß man, dass solche Reaktionen ein Schutz des Körpers für die Seele sind.
Dürnagel: Als Versagen natürlich. Mit meinem Leistungsgedanken habe ich mich total unter Druck gesetzt. Nachdem mein Vertrag beim Club nicht verlängert wurde, wollte ich unbedingt im Profibereich bleiben. Als das nicht klappte, hab' ich ein Jahr gebraucht, um zu verstehen, dass es nicht mehr nach oben gehen würde. Obwohl ich dann noch in der vierten Liga in Crailsheim und Aschaffenburg aktiv war, fühlte es sich wie Scheitern an. Auch deswegen, weil andere Spieler meiner Generation in Nürnberg wie Cacau oder Andi Wolf ihren Weg gegangen sind. Die Enttäuschung hat viel mit mir gemacht. Unter anderem hat sie dazu geführt, dass ich fünf Jahre gar nichts mit Fußball zu tun hatte.
Dürnagel: Definitiv ja. Heute muss zumindest jedes Bundesliga-Leistungszentrum einen Sportpsychologen haben. Aber es ist wichtig, Spielern früh klarzumachen, dass es nicht jeder nach oben schaffen wird, dass Fußball erst mal vor allem ein Hobby ist und dass Schule und eine Ausbildung auch wichtig sind. Da sind auch Eltern gefragt.
Dürnagel: Corona und familiäre Gründe. Im November 2020 haben meine Partnerin, die Mutter meiner Töchter, und ich uns räumlich getrennt. Die neue Situation ohne die Kinder und mit finanziellen Sorgen wegen des Hauses haben mich sehr belastet. Dazu kam, dass meine neue Lebenspartnerin in Köln wohnte und dort als Lehrerin wieder in Präsenz unterrichten musste. Ich arbeitete im Homeoffice und war die ganze Zeit alleine. All das kannte ich nicht. Selbst die Trainingseinheiten für die Kickers haben mir keinen Spaß mehr gemacht. Ich war nur noch gereizt.
Dürnagel: Ich bin morgens kaum mehr aus dem Bett gekommen, war total antriebslos und niedergeschlagen. Alles hat mich überfordert. Meine Gedanken waren gefangen in einer negativen Spirale. Ich dachte: "Ich schaffe das alles nicht mehr." Wegen der Existenz- und Zukunftsangst hatte ich Panikattacken. Auch körperlich ging's mir nicht gut: Ich hatte Rücken- und Magenschmerzen und von früh bis spät ein ganz komisches Gefühl im Bauch.
Dürnagel: Ich hatte Angst, die Kontrolle zu verlieren und dass dadurch etwas Schlimmes passieren könnte. Aber ich hatte keine Pläne, mich umzubringen. Meine Kinder waren ein großer Halt, sie sind ein riesiger Anker für mich.
Dürnagel: Eine Freundin von mir arbeitet dort. Als ich gesagt habe, dass ich nicht mehr kann, hat sie mich zusammen mit meiner Lebenspartnerin zum Hausarzt gefahren. Er diagnostizierte eine Depression und zeigte mir zwei mögliche Wege auf: Zum einen eine ambulante Therapie bei einer Psychotherapeutin mit Medikamenten, zum anderen eine stationäre Aufnahme.
Dürnagel: Ich hatte schon auch eine gewisse Angst, vor allem davor, dass ich mit Medikamenten vollgepumpt und vielleicht nicht mehr so einfach entlassen werde. Aber noch mehr war ich froh, dass ich die Verantwortung abgeben konnte, als ich nicht mehr handlungsfähig war.
Dürnagel: Erst mal legt ein Eingangsarzt fest, ob man auf die offene oder geschlossene Station kommt. Ich sollte zunächst auf die geschlossene. Dort musste ich vor der Tür auf den Oberarzt warten. In der Zeit bekam ich Eindrücke, durch die ich gemerkt habe: Es gibt Menschen, denen es noch schlechter geht als mir, die zum Beispiel psychotisch sind. Ich wäre trotzdem auch auf die geschlossene Station gegangen. Aber der Arzt hat dann entschieden, dass ich auf die offene soll.
Dürnagel: Zunächst wurde ich aufgeklärt über die unterschiedlichen Erkrankungen, die entstehen können, wenn das persönliche Stressfass zum Überlaufen kommt. Neben Depressionen gibt es ja auch Angststörungen oder Schizophrenie. Als Ausgleich für die fehlenden Botenstoffe im Gehirn bekam ich Antidepressiva; nach einem Jahr beginne ich jetzt, sie auszuschleichen. Teil der Therapie waren neben Gesprächen auch autogenes Training, progressive Muskelentspannung, Yoga, Kunst und Werken. Und ich habe eine Familienaufstellung gemacht und kognitiv gearbeitet. Jeder Mensch geht ja mit Überzeugungen von sich durchs Leben, die einem nicht helfen.
Dürnagel: Dass ich stark sein muss. Und dass Erfolg mich und mein Leben definiert.
Dürnagel: Gerade im Profifußball wird es immer noch von vielen als Schwäche ausgelegt, wenn es einem psychisch nicht gut geht. Das ist bis heute vor allem ein Männerproblem. Viele Männer meinen, in jeder Situation stark sein zu müssen, manche versuchen ihre Depression mit Alkohol zu verdecken. Frauen, so ist meine Wahrnehmung, gehen in der Regel offener damit um. Ich habe inzwischen gelernt, dass ich nicht schwach bin, wenn ich Hilfe brauche, sondern, dass es eher stark ist, sie anzunehmen.
Dürnagel: Gefühle zuzulassen und nicht zu verdrängen. Und, ganz wichtig: Selbstfürsorge. Auf seinen Körper zu hören, sich Auszeiten zu nehmen, nicht ständig erreichbar zu sein. Ich lerne da immer noch viel in der ambulanten Therapie bei einer Psychologin in Veitshöchheim. Ich habe aber auch Angst vor einem Rückfall angesichts der aktuellen Probleme.
Dürnagel: Ja, wobei meine Psychologin sagt: Die Angst vor Krieg hat nichts mit einer Depression zu tun. Die hat im Moment jeder.
Dürnagel: Phänomenal positiv! Auch bei den Kickers wurde ich sehr unterstützt. In welchen Zusammenhang Depressionen aber von Einzelnen gerückt werden, finde ich nicht gut.
Dürnagel: Na ja, wenn sogenannte Fans im Internet nach Niederlagen zum Beispiel schreiben: "Es ist kein Wunder, dass man depressiv wird, bei dem, was ihr zusammenkickt." Ich würde mir manchmal mehr Fingerspitzengefühl wünschen, auch im Umgang mit Spielern, die Misserfolg erleben und nicht freiwillig verlieren. Die letzten eineinhalb Jahre ist von außen eigentlich nur auf uns eingeprügelt worden. Umso wichtiger finde ich, wenn sich prominente Menschen wie Max Eberl in Gladbach zu ihren psychischen Problemen bekennen. Das erste Mal hat der Boulevard da nicht reingeklopft, das war bemerkenswert.
Dürnagel: Es ist schon viel passiert seither. Die jüngere Trainergeneration im Fußball verfolgt ganzheitliche Ansätze, da geht's nicht mehr nur um Erfolg wie früher, sondern auch um das Menschliche. Es wird im mentalen Bereich auch präventiv gearbeitet, um Leistung überhaupt zu ermöglichen. Gleichwohl sind psychische Erkrankungen bei vielen noch immer ein Tabu.
Dürnagel: Als ich nach sechs Wochen aus der Klinik entlassen wurde, hat mich der Psychologe im Abschlussgespräch gefragt, wie ich draußen mit dem Thema umgehen werde. Ich habe gesagt: Offen, denn die Depression gehört zu mir. Dazu zählt auch dieses Interview, um weiter aufzuklären und psychische Erkrankungen zu enttabuisieren.
Hilfe gegen Depression und andere psychische Erkrankungen
(0931) 201-77 800 (nachts und am Wochenende: (0931) 201-76 393)