Helmut-Ott-Halle im oberpfälzischen Auerbach im April vergangenen Jahres: 85 Sekunden. Sie trifft ihre Gegnerin aus der Drehung wuchtig mit der Rückhand, die fällt wie ein geschlagener Baum zu Boden und bleibt dort einige Sekunden regungslos liegen. Der Kampf ist vorbei. Deborah Melhorn ist Europameisterin der International Sport Kickboxing Association (ISKA). Die nun 29-Jährige lebt seit Juni dieses Jahres in Würzburg. Am 23. September kämpft Melhorn im niederländischen Alkmaar um die Weltmeisterschaft.
Geboren im Ostalbkreis
Geboren und aufgewachsen in Ellwangen an der Jagst im Ostalbkreis als Jüngste von sieben Geschwistern, beginnt sie mit sechs mit Taekwondo. "Unsere Mutter wollte, dass wir uns auch wehren können", sagt sie. Die Melhorn-Mädchen hören auf sie, alle fünf betreiben Kampfsport, drei von ihnen bis zum schwarzen Gürtel. Deborah hat zwar "nur" einen braunen, dafür ist sie amtierende Europameisterin und vielleicht bald Weltmeisterin. Wenn sie davon redet, um Worte nicht verlegen, und zwischendurch mal herzlich laut lacht, hört man die Schwäbin.
Für eine Ausbildung zur Physiotherapeutin zieht Melhorn mit 18 nach Stuttgart, geht dort das erste Mal zum Kickboxen: "Das ist schon was anderes als Taekwondo oder Judo, wenn die Faust eben auch mal ins Gesicht trifft."
Sie beweist dabei ihr Talent, will mehr als nur eine Amateurin sein, die ihren Sport als Hobby pflegt. "Gerade in Deutschland sind die Chancen als Frau beim Kickboxen recht gut" , weiß sie. Im oberfränkischen Pegnitz findet sie eine Kampfsportschule und einen Trainer, der sie weiter fördert. Melhorn wird deutsche Meisterin, findet hierzulande aber "seit circa zwei Jahren" kaum noch Konkurrentinnen auf ihrem Level.
Nach Würzburg gekommen ist sie nun, um den nächsten Schritt in ihrer Karriere als Kickboxerin zu gehen. Mit ihrem Trainer Erdi-Egeman Sür, der sagt: "Wir kennen uns schon länger, es war unser gemeinsamer Gedanke. Als Profi-Kämpfer habe ich einen anderen Blick, und bei ihr habe ich gesehen, dass sie noch viel mehr Potenzial hat. Ich würde in niemanden so viel Zeit investieren, wenn er oder sie es nicht verdient hätte."
Kickboxen und vor allem bei Frauen ist in Deutschland eine Nischensportart. Christiane Theiss war von 2007 bis 2013 Weltmeisterin in vier Verbänden. Dass sie zuvor in Medizin promoviert hatte, brachte ihr platte Schlagzeilen ein wie: "Die schöne Kickboxerin mit dem Doktortitel". Für Sür muss zwei Dinge zusammenkommen, um erfolgreich zu sein: "Viele denken, zum Kampfsport gehört nur Kraft und kein Kopf. Aber wer nichts im Kopf hat, kommt hier nicht weit. Nur mit Gewalt und Härte ist es nach ein paar Kämpfen vorbei."
Dass man als Profi den Alltag komplett am Sport ausrichtet, auf vieles verzichtet, um im Gym zu trainieren oder zu Sparrings Hunderte von Kilometern zu fahren: Deborah Melhorn kennt das. "Wenn ich erzähle, was ich mache, gucken viele erst mal wie ein Auto."
Sport statt Ausgehen
Von Würzburg kennt sie dagegen noch nicht so viel. Sie gehe eben kaum aus, sagt sie, obwohl ihr die Stadt sehr gut gefalle. Ihr Fokus liegt aber auf dem Sport, schließlich ist sie Profi geworden, um nach ganz oben zu kommen. Ein Weltmeistertitel würde ihr neue Türen öffnen, in Osteuropa, in den USA, in Asien, so würden sich Aufwand und Entbehrungen auch finanziell mal auszahlen.
"Inzwischen bin ich so bekannt in der Kampfsportszene, dass ich angefragt werde. Anfangs musste ich mich bei Veranstaltern melden, dass ich gerne kämpfen würde", sagt Melhorn nach 25 Profi-Kämpfen. Zwar bestreite sie relativ viele Kämpfe, fünf bis sechs im Jahr, nehme aber auch nicht jedes Angebot, das sie nun bekomme, an.
Der Glaube an sich selbst
Obwohl sie Profi ist, arbeitet sie in ihrem Beruf als Physiotherapeutin und gibt als Trainerin Kurse für Frauen in Kickboxen und Selbstverteidigung, was ihr am Herzen liegt: "Ich möchte Frauen diesen Sport näherbringen, ihnen die Berührungsängste nehmen." Was sie den Teilnehmerinnen dabei vermittle, sei zum einen die Technik und Kraft, zum anderen, und das sei viel wichtiger, der Glaube an sich selbst, die Überzeugung, sich behaupten zu können. "Abgesehen davon, dass du fit bist, gibt dir der Kampfsport Selbstvertrauen in vielen Situationen."
Das sei auch das, was sie tagtäglich für ihre Kämpfe trainiere, um es im Moment der Extremsituation im Ring, vor Publikum und voller Emotionen, abrufen zu können. Dort kam sie bislang glimpflich davon: "Die meisten Verletzungen passieren im Training und nicht im Kampf, weil du dort darauf vorbereitet und voller Adrendalin bist." Ihren nächsten Kampf bestreitet Deborah Melhorn am 23. September, wenn sie in Alkmaar gegen die Niederländerin Jorina Baars vor ein paar Tausend Zuschauerinnen und Zuschauern um den WM-Titel kämpft. Baars hat 48 ihrer 49 Profi-Kämpfe gewonnen.
"Wahnsinnige Herausforderung"
"Das ist eine wahnsinnige Herausforderung", sagt Melhorn. "Sie ist die Nummer eins in der Gewichtsklasse bis 66 Kilogramm." Was vergleichbar ist mit dem Schwergewicht bei den Männern, da es darüber nur noch die offene Gewichtsklasse gibt. Sie sei schon mitten in der Vorbereitung auf den Kampf, den bisher wichtigsten ihrer Karriere.
In den letzten drei Wochen sei sie dann "im Tunnel", da sei es selbst zu viel, wenn jemand mal einen Kaffee trinken gehen möchte. "Da bin ich 100 Prozent fokussiert und brauche ein positives Umfeld. Denn die Arbeit mache ich, den Kampf aber entscheidet der Kopf." Es gehe darum, wer mehr als die andere gewinnen wolle und dafür über eigene Grenzen gehe. Deborah Melhorn ist bereit dafür. Auch wenn dieser Kampf wohl länger als 85 Sekunden dauern wird.