
Simon ist 14 als ihn sein Trainer in einem Zeltlager das erste Mal sexuell missbraucht. "In der Nacht bin ich davon aufgewacht, dass er mich halb ausgezogen hatte und mit seinem Riesenkörper auf mir lag. Er küsste mich und nahm sexuelle Handlungen an mir vor." Simons Erinnerung, sie ist schrecklich – und nun für immer schwarz auf weiß festgehalten. In einer Studie, die anhand von 72 vertraulichen Berichten Betroffener "Sexualisierte Gewalt und sexuellen Kindesmissbrauch im Kontext des Sports" untersucht hat. Beauftragt hatte sie die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, vorgestellt wurden die Ergebnisse der Forscherinnen und Forscher am Dienstag im Familienministerium in Berlin.
Sie zeichnen ein erschreckendes Bild nicht nur des Leistungs-, sondern auch des Breitensports. 40 Prozent der Betroffenen waren während der Übergriffe im Leistungssport, 40 Prozent im wettkampforientierten Breitensport und rund 20 Prozent im Freizeitsport aktiv. Zwei Drittel erlebten Missbrauch und sexuelle Gewalt regelmäßig und über einen längeren Zeitraum. Die Tatpersonen, so heißt es in der Studie, stammten vorwiegend aus dem direkten oder nahen Umfeld der jungen Sportlerinnen und Sporten und waren männliche Trainer, Betreuer oder Lehrer – wohingegen rund drei Viertel der Betroffenen weiblich waren.
Die zwei Sportarten, in denen es laut der Studie zu den häufigsten Übergriffen kam, sind Turnen (17 Prozent) und Fußball (zehn Prozent). "Damit werden diejenigen Sportarten am häufigsten benannt, die in Deutschland auch die meisten Mitglieder haben und oft von Kindern und Jugendlichen ausgeübt werden", sagt Bettina Rulofs, die leitende Autorin der Studie in einer Pressekonferenz am Dienstagmorgen. Die Sportsoziologin, seit Oktober 2021 Professorin an der Deutschen Sporthochschule in Köln, beschäftigt sich schon lange mit sexualisierter Gewalt im Sport und ist eine der Ersten, die in Deutschland zu diesem Thema geforscht hat.
Zum Breitensport gibt es bisher nur wenige Erkenntnisse, doch zeichnet sich ab, dass auch dort die Probleme massiv sind. Erste Befunde einer Studie, die die gesamte Bandbreite des Vereinssports untersucht und 2023 veröffentlicht werden soll, zeigen, dass von 4367 Vereinsmitgliedern in Deutschland ein Viertel schon mindestens einmal sexualisierte Grenzverletzungen oder Belästigungen erlebt hat.

Und so gerät das positive Image des Breitensports ins Wanken. Dabei hat es gerade dieses Idealbild den Betroffenen so schwer gemacht, "für ihr im Sport erfahrenes Leid Aufmerksamkeit und Hilfe zu bekommen", so Rulofs. Oft würden Opfer erleben, dass ihr Leid individualisiert und bagatellisiert würde. Auch, weil Ehrenamtlichkeit idealisiert werde und es häufig an guten Übungsleiterinnen und Übungsleitern fehle. "Sportvereine wollten offenbar nicht wahrhaben, dass auch Ehrenamtliche Gewalt ausüben können, und verschlossen die Augen, um die wenigen engagierten Ehrenamtlichen nicht zu verlieren", heißt es in der Studie.
Wie viel hat der Sport mit der katholischen Kirche gemeinsam?
Immer wieder fallen an diesem Vormittag auch Vergleiche mit der katholischen Kirche. Da wie dort handele es sich um ein geschlossenes System mit hierarchischen Machtstrukturen und extremen Abhängigkeiten. Unabhängige Ansprechpersonen gebe es in der Regel nicht und mit der Aufarbeitung tue man sich schwer. "Wir beobachten eine Flucht in die Prävention. Aber wenn wir die Vergangenheit nicht ernst nehmen, wird die Prävention kein tragendes Fundament bekommen", ist sich Heiner Keupp, Mitglied der Aufarbeitungskommission, sicher.
Basierend auf der Studie schließen er sowie die Autorinnen und Autoren sich der Forderung nach einem unabhängigen Zentrum "Safe Sport" an, wie es nach den jüngsten Missbrauchsvorwürfen im Schwimmsport der Verein "Athleten Deutschland" wieder vehement gefordert hatte. Bisher gibt es zwar viele Versprechungen aus Politik und organisiertem Sport, gesichert ist die Finanzierung des Zentrums aber noch immer nicht.