
Da ist dieser Schreihals auf der Tribüne des Nürnberger Max-Morlock-Stadions. Drunten spielt der 1. FC Nürnberg, droben plärrt dessen lautstarker Anhänger: "Du schwule Sau." Da steht Steffen Müller auf, dreht sich um und fragt: "Ja, bitte? Was willst du von mir?" Und auf einmal steht der Schreihals vor den um ihn sitzenden Zuschauern da als das, was er ist: homophob. Dass sich Müller im Vorbeigehen mal wieder als homosexuell outet, ist ihm egal. Er ist einer von drei Vorsitzenden des schwul-lesbischen Fanclubs "Norisbengel" - und hat in jeder Hinsicht ein breites Kreuz.
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Es ist zehn Jahre her, da erhielten die "Norisbengel" vom 1. FC Nürnberg die Urkunde als eingetragener Fanclub, der aus Unterfranken stammende Fanbetreuer Jürgen Bergmann überreichte sie mit in etwa diesen Worten: "Wir haben lange damit gerechnet, dass so etwas auf uns zu kommt." Nun, heute ist das Verhältnis zum Verein ein, sagen wir, freundliches. Müller hält es für ausbaufähig. Zum Fünfjährigen hatte der Club Dieter Eckstein und zwei Aufsichtsrat-Mitglieder geschickt, Radio-Legende Günther Koch war auch da. Aber kein aktueller Spieler. Dabei hatten sich die 2010 gegründeten "Norisnegel" das gewünscht, andere Fangruppierungen dies auch schon bekommen.
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Benachteiligt, weil homosexuell? In der archaisch geprägten Männerdomäne Fußball, dem Sport von harten Männern für noch härtere Männer ist kein Platz für gleichgeschlechtliche Liebe. Wenn sich hie und da ein Fußballer outet, dann nach dem Ende seiner Laufbahn. Prominentestes Beispiel: Thomas Hitzlsperger 2014. Zwei Jahre nach dem Ende der Ära Theo Zwanziger als DFB-Präsident. "Ihm brannte das Thema auf den Nägeln, in der Zeit ist etwas passiert", erinnert sich Müller an Runde Tische zum Thema Homosexualität. Er hat das Gefühl, dass sich aktuell wieder Interesse des Verbandes anbahne. Dass beispielsweise der FCN eine Aktionswoche, an der sich die "Norisbengel" mit Infoständen beteiligen sollten, in diesem Jahr geplant hatte, sei vom DFB forciert worden - die Aktion fiel jedoch der Corona-Krise zum Opfer und soll 2021 neu angesetzt werden. Auch der VfL Wolfsburg, St. Pauli, der 1. FC Köln oder der FC Bayern München haben Signale gesetzt mit Regenbogen-Eckfahnen.
Immer noch ein Tabu-Thema
"Es ist wichtig, das Thema aktuell zu halten", sagt der 56-Jährige. "Es gibt Viele, die sagen: Das ist doch heute kein Thema mehr, es kann ja Jeder machen, was er will. Nein! Es ist, zumindest im Fußball, immer noch ein Tabu-Thema. Dabei fänden es 95 Prozent wahrscheinlich super, wenn ein Profi dazu stehen würde. Aber die anderen fünf Prozent können ihm das Leben zu Hölle machen." Soziale Medien seien der Brandbeschleuniger. Müller zitiert Fußball-Profi Ralf Gunesch (St. Pauli, Mainz, Ingolstadt), der auf einer Veranstaltung des Dachverbandes Queere Fußball-Fans (QFF) einerseits gesagt habe: "Wie kann man hassen, wenn zwei Menschen sich lieben?" Jedoch auch: "Ich würde jedem aktiven Fußballer von einem Outing abraten. Wenn die Öffentlichkeit wüsste, was da abgeht in den Kabinen, was da an blöden Witzen kommt."

Als die "Norisbengel" den Verbandstag des QFF ausgerichtet haben, zeigte der FCN offensichtlich Berührungsängste mit dem Thema Homosexualität. Jungprofi Niklas Stark sollte geschickt werden, am Tag der Veranstaltung die Rolle rückwärts: Stark habe gerade erfahren, er müsse zum Spiel der U-21-Nationalmannschaft. In diesem Jahr steht das Zehnjährige an, auch wenn es wegen der Corona-Krise vielleicht erst 2021 gefeiert werden kann. Müller glaubt noch an einen Profi: "Ich kann mir bei 26 oder 28 Lizenzspielern nicht vorstellen, dass alle keine Lust haben. Ich denke, ein Typ wie Hanno Behrens würde schon wollen."
Fanclub als Seelengemeinschaft
Bereuen es die "Norisbengel" am Ende, sich mit der Formierung eines schwul-lesbischen Fanclubs womöglich selbst ausgegrenzt zu haben, wo es doch der sehnlichste Wunsch ist, als ganz normaler Fanclub zu gelten? "Nein", so Müller. Da bis auf ganz wenige Mitglieder alle homosexuell seien, auch die drei Frauen, habe man neben dem Fußball auch diesbezügliche Themen. Der Fanclub als Seelengemeinschaft. Die Initialzündung kam schließlich vor zehn Jahren in einem einschlägigen Chat-Room für Homosexuelle. "Da gab es Gruppen für Fußballklubs, auch für den 1. FC Nürnberg. Eine hatte die Idee für einen FCN-Fanclub." Tatsächlich war nach einem halben Jahr ein Haufen beisammen für ein Treffen.

Dank guter Vernetzung waren es bald um die 40 Fans, von denen einige inzwischen parallel beim großen FCN-Supporters-Club eingeschrieben sind. Für Müller war die Liebe zum Club anfangs eine beschwerliche. Aus Dillingen an der Donau stammend, hatte er sich von den nahen Standorten Augsburg, Stuttgart und Nürnberg in den Siebzigern für Letzteren entschieden: Club-Fan also - selbst, als er beruflich bedingt nach München zog und zwischenzeitlich eine Sechzig-Dauerkarte hatte. Die erste vom 1. FC Nürnberg kaufte er 2010, nach der Fanclub-Gründung. Inzwischen lebt er in Nürnberg, arbeitet als Beamter bei der Bundesagentur für Arbeit.
Ums Haar hätten die "Norisbengel" "Noris-Stürmer" geheißen. Doch zwei Stimmenthaltungen beim QFF-Aufnahmeritual hatten Müller und Co stutzig gemacht. Im Dialog mit den Ja-Wort-Verweigerern stellte sich raus, dass diese das Wort "Stürmer" mit dem Hetzmagazin gegen Juden verbunden und NS als Abkürzung für "Noris-Stürmer" ausgemacht hatten. Der Irrtum war rasch ausgeräumt, in Anlehnung an den Arminia-Fanclub "Blaue Bengel Bielefeld" der Name korrigiert. "Mir gefällt das Wort Bengel so", sagt Müller und versichert, dass es deswegen keine Diskussionen mit den wenigen Mädels im Club gebe.

In der Nürnberger Fanszene haben die "Norisbengel" längst ihren Platz. "Im persönlichen Kontakt habe ich nie Feindseliges gehört, im Gegenteil: Aufmunterung." Das Fanclub-Banner haben ihnen Ultras gemalt. Lediglich eine andere der drei Nürnberger Ultra-Gruppierungen habe sich mehrfach aggressiv gezeigt: die "Banda di Amici". Ein Beispiel: Müller war mit seinem Vater auf dem Weg zum Stadion, wollte in eine Straßenbahn einsteigen, da sei diese Meute herangestürmt und habe alle Anderen beiseite geschubst, auch eine ältere Dame. Das habe Müller moniert und Spott geerntet: "Das sind ja die Schwuchteln."
Diskussionsrunde mit Jugendlichen
Für die "Norisbengel" sind solche Vorfälle Anlass für Aufklärungsarbeit. Sie sehen sich nicht als Kämpfer ("wir sind ein ganz normaler Fanclub, nur halt schwul"), wollen aber einer breiteren Öffentlichkeit ihr Anliegen näher bringen. Dazu gehören neben dem Fanclubs-Auftritt beim CSD auch Vorträge im FCN-Nachwuchsleistungszentrum, wo mit U-15- und U-17-Fußballern diskutiert wurde. Reichlich Anfragen lägen vor für Infoveranstaltungen, beispielsweise an Schulen. Regisseurin Andrea Hintermaier, Tochter von Club-Legende Reinhold, will 2021 eine Doku über den Fanclub drehen.

Ihre Akzeptanz schreiben die "Norisbengel" ihrem Auftreten zu. Das sei weder tuntig ("bestimmt sind bei uns Leute, die lieber Prosecco trinken würden, aber beim Fußball gibt's Bier"), noch überzeichnet männlich, nur, um anzukommen: "Nie, wirklich nie, ist Jemand von uns rotzbesoffen, ausfallend oder aggressiv." Dass die Fanclub-Mitglieder im Stadion mal die Regenbogenfahne hochhalten, sorgt für wenig Tamtam. Erkennbar sind sie an Trikots mit dem Schriftzug "Norisbengel" und dem Fanclub-Schal, den Jeder zum Einstand erhält. Die Corona-Einschränkungen hat der Fanclub ohne Austritte überstanden. Selbst der Bengel-Ausflug im August fand statt, nur halt vor der Haustüre, im Nürnberger Tiergarten - stilecht mit einer Führung zum Thema "Homosexualität im Tierreich".
Ignoranz sorgt für Frustration
Steffen Müller war sich mit 14 seiner sexuellen Orientierung bewusst, hat sich mit 16 geoutet. Er fühlt sich zwar nicht im falschen Film, wenn Homosexualität in Zeiten von Political Correctness noch ein gesellschaftliches Problem sein kann, ist aber frustriert, "wenn Menschen, um deren Akzeptanz ich werbe, sagen: Lass mich in Ruhe mit dem Scheiß." Er selektiere deswegen seinen Freundeskreis. "Ich verstehe nicht, dass sich Menschen wegen angeblicher Freunde oder der Familie nicht trauen, zu ihrer Homosexualität zu stehen: Ist ein Leben in Heimlichkeit lebenswert?"

Diese Frage stellt der Fußballfan auch Fußballern und Funktionären. Gerade im Amateurbereich sollte es möglich sein, sich zu outen. "Es wäre ein Leichtes, gegen homophobe Leute vorzugehen. Man hört und sieht, wer schreit. Da könnten Vorsitzende Platzverbote aussprechen. Oder sich von schwulenfeindlichen Spielern trennen, wenn man wirklich hinter Menschen stehen will, die 'anders' sind." Da wird Steffen Müller sogar ein bisschen angriffslustig und krempelt die Ärmel seines weinroten FCN-Kapuzenpullis hoch. Zum Vorschein kommt ein großes Tattoo auf dem Unterarm. Zwar kein Club-Logo, aber der bekannte Slogan: Ich bereue diese Liebe nicht. "In jeder Hinsicht."