Das Ergebnis des ersten Derbys der Würzburger Kickers anno 1908 gegen den FV 04? Weiß er. Fotografien von der Einweihung des Rotgrandplatzes an der Randersackerer Straße 1958? Hat er. Ein Interview mit einem der Spieler der Gründungsmannschaft der Rothosen von 1908? Natürlich. Seit inzwischen 60 Jahren sammelt Rainer Adam alles, was es in Sachen Würzburger Kickers zu sammeln gibt. Was als Hobby eines Jugendlichen in den Sechzigern begonnen hat, ist inzwischen zu einem nahezu vollständigen Privatarchiv geworden. Zu 99,9 Prozent, laut Adam.
Zum Treffen mit dieser Redaktion lädt der 72-Jährige in die Sanderau. Adams Wohnung ist im Dachgeschoss jenes Hauses, das nicht unweit vom ehemaligen Kickers-Gelände an der Randersackerer Straße liegt. Start für sein Archiv war das Silvesterspiel 1961, als die Kickers im DFB-Pokal den 1. FC Nürnberg empfingen. Durch Zufall war Adam auf einem Foto der Partie in der nächsten Ausgabe der Main-Post abgebildet. Er schnitt es aus, klebte es in einen Ordner. So begann die Geschichte, die ihn auch zum Chronisten, Redakteur der Vereinszeitung, Stadionsprecher und Betreiber eines Kickers-Souvenirstandes werden ließ.
Der Besuch in der Wohnung des Junggesellen ist als Interview angelegt. Es gerät aber zu einem Vortrag, die genaue Kenntnis von über hundert Jahren Vereinsgeschichte sprudelt direkt aus Adam heraus, ohne dass es eine Frage zum Einstieg bräuchte. Immer wieder bricht er ab, kramt aus den vollgestopften Regalen seines Wohnzimmers alte Artikel, Fotos oder Chroniken heraus, zeigt, erklärt, holt das nächste Erinnerungsstück hervor, und erzählt wieder eine andere Anekdote. Das Protokoll des Besuchs.
Adam empfängt die Reporter in seiner Dachgeschosswohnung und beginnt gleich damit, alte gebundene Zeitungen hervorzuholen. Es sind die Kickers-Nachrichten von 1912. Er lässt sie auf sein Wohnzimmertischchen klatschen und lächelt.
Adam: Da lässt sich schön nachschauen, was so alles gelaufen ist. Dann gab es Spieler, die mir aus ihrer Zeit ein paar Bilder und Zeitungsausschnitte gegeben haben. Dann kam ein anderer Spieler, der hatte auch Material. Als ich die Vereinszeitung gemacht habe, hab ich immer Hinweise bekommen: Du musst mal zum Vater von soundso gehen, der hat noch so ein paar Bilder aus den Zwanzigern. Der damalige erste Vorsitzende, Julius Bächer, hat mir einmal gesagt, man sollte sich nicht mehr so sehr um die alten Geschichten kümmern. Alles zu lange her. Viele von früher leben nicht mehr. Dann hab ich gesagt, dass es halt blöd ist, wenn ein Jubiläum ansteht. Da erzählen sie dann immer vom alten Traditionsverein. Und wenn einer wissen will, was denn zum Beispiel 1925 war, winken sie ab. Wichtig war auch das alte Interview, das ich gefunden hab. Warte, hier.
Adam blättert in seiner Chronik zu einem Interview mit einem Spieler der Gründungsmannschaft von 1908.
Adam: Es ist lange behauptet worden, auch in der alten 04-Chronik von 1929, '25 Jahre 04', 'Unzufriedene' hätten den Verein verlassen und die Kickers gegründet. Aber das stimmt nicht, das ist in diesem Interview nachzulesen. Kickers waren Schüler und Akademiker. Die haben ausgeholfen bei Nullvier, damals, 1906 in der Ostmaingauklasse. Da hat ja niemand nach einem Spielerpass gefragt. Da hat Paul Röll mitgespielt. Dann mussten die Fußballer vom Sanderrasen weg, auf den Kugelfang, hoch oben auf dem Galgenberg. Dort war eine Wiese. Da haben 04, Germania und Kickers gespielt. Da war keiner unzufrieden, das hat der im Interview klargestellt. Das war gut, dass ich das gefunden habe. Auch deswegen hab ich das ganze Archiv. Wenn irgendwas behauptet wird, brauche ich nur nachschauen. Es ist alles da, schwarz auf weiß.
Adam bricht ab, klappt seinen Ordner zu und schaut plötzlich ernst.
Adam: Eins wollte ich noch sagen: Es ist ein Privatarchiv, es gehört mir. Und das kriegen die auch nie. Wem soll ich das von denen da draußen geben? Wenn ich mir die Leute anschaue in der Geschäftsstelle, die kommen und gehen. Heute ist der Vorstand, morgen der. Das Archiv geht an die Stadt. Die waren schon da, die haben Interesse. Gerade auch die Sachen mit dem dritten Reich, das muss ich euch gleich mal zeigen, ich habe ja die heißen Sachen alle da. Wo sie nach 'Halbjuden' im Verein gesucht haben und so. Das ist alles schriftlich festgehalten.
Er holt die "heißen Sachen" hervor: Originale Schriftstücke der NSDAP an den Verein FC Würzburger Kickers.
Adam: Hier, die alten Briefe von der Partei sind alle da. Die hatte der Vorsitzende Dr. Laufer, bei seiner Tochter war ich mal im hintersten Steinbachtal. Da war in der Kriegszeit die Geschäftsstelle. Und dadurch ist beim Bombenangriff nichts verloren gegangen. Ganz hinten, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen. Und da hat mir die Tochter alles überlassen. Hier, das sind die Briefe der NSDAP.
Adam überblättert einige Seiten, dann hält er inne.
Adam: Mein erstes Spiel: 1958 ist im September der Rotgrandplatz an der Randersackerer Straße eingeweiht worden. Meine Brüder haben mich mitgenommen. Der Platz zuvor war fertig. Die Kickers hatten zu der Zeit ein halbes Jahr Gastrecht bei Nullvier an der Frankfurter Straße. Dann kam die Einweihung gegen Mitterteich. Vorm Spiel ist ein US-Hubschrauber eingeflogen gekommen, hat den Ball abgeworfen und rot-weiße Nelken. Damit war der Platz offiziell eröffnet. Das war mein erstes Mal. Aber nach zehn Minuten bin ich wieder heimgegangen. Ich war acht Jahre alt, ich hatte ja keine Ahnung von Fußball. Der Hubschrauber war da gewesen, das Spiel war mir zu langweilig. Wir haben hier auf dem Balkon in der Arndstraße am Sonntagnachmittag immer das Gebrülle vom Kickers-Platz gehört. Mein Vater war kein Fußballer. Der hat über die Verrückten da draußen immer nur den Kopf geschüttelt. Aber da war was los.
Es folgt eine Seite zum Spiel der Kickers gegen den 1. FC Nürnberg. Adam nennt es "das legendäre Spiel".
Adam: Das nächste Aufeinandertreffen war dann gegen Nürnberg, Silvester 61. Da ist es. Das legendäre Spiel. Da bin ich durch Zufall auch auf dem Bild. Dann habe ich das natürlich gesammelt, das hat mir gefallen. Hier hab ich einen Pfeil hingemacht, da bin ich drauf. Ganz vorne, an der Bande. Ich habe fünfzig Pfennig bekommen, für den Eintritt. Hier seht ihr, was da los war. So sind die Leute reingepresst worden. Ein Kassenhäuschen, drei Mann von der Wach- und Schließgesellschaft. Die haben die Karten abgerissen. Und dann haben sich 9000 Leute durch ein Tor gedrängt. Wahnsinn.
"Dächer brachen ein", liest Adam vor.
Adam: Da hat es plötzlich Krach gemacht. Das weiß ich noch genau. Die Leute waren auch auf den Bäumen gesessen. Es hat keine Maus mehr hinein gepasst.
Zwar beginnt Adam in dieser Zeit mit Sammeln, bei jedem Spiel ist er fortan aber noch nicht. Diese Phase beginnt erst ab der Saison 1963/1964.
Adam: Das war 1963, die eingleisige Bayernliga wurde wieder eingeführt. Das war eine klasse Zeit. In der ersten Saison hatten wir im Schnitt 2000 Zuschauer. Gegen Haßfurt waren es fast 6000. Das waren tolle Spiele. Hier, da hab ich es: 'Entfesselte Kickers überrollen Haßfurt'. Das war unser Unterfrankenderby. Nullvier war in der Landesliga damals. Ein Jahr später sind sie aufgestiegen.
Es ist einer der wenigen Momente an diesem Nachmittag, in dem Adam ruhig sitzt. Die Unterlagen liegen auf seinem Schoß und es ist spürbar, wie er die Zeiten der Kickers in den Sechzigern vor seinem inneren Auge vorbeiziehen lässt.
Adam: Bayernliga. Das waren lauter Derbys: Gegen Bamberg, Lichtenfels, Haßfurt, Büchenbach-Erlangen und so weiter. Hier, das ist eine typische Szene vom alten Platz. Ein richtiges Kampfspiel gegen Jahn Regensburg. Hinten noch das Denkmal, Ostern 1924 eingeweiht, das jetzt am Stadioneingang zugebaut und kaum noch sichtbar ist. Das Unterfrankenderby im Oktober 1963 gegen Haßfurt, und ich weiß noch: Während des Spiels kommt einer aus der Kickers-Gaststätte, rote Birne und Bierglas in der Hand, und er hat gedacht, da drüben stehen Haßfurter. Das mit den Fans und Schals, das gabs ja damals noch nicht. Die hatte er halt noch nie gesehen, dann waren das für ihn Haßfurter. Da hat er zu denen gerufen: 'Jetzt nach 20 Minuten steht es schon 3:0, Halbzeit machen wir 5:0, Endergebnis 10:0, genau das richtige für Haßfurt!' Die Kickers gewannen 4:2. Das war beim Hinspiel. Zum Rückspiel im März 64 bin ich noch nicht mitgefahren. Abends im Bayerischen Rundfunk, Radiolegende Josef Kirmaier am Mikrofon, jetzt kommt die Bayernliga. In aller Ruhe, das war alles noch gemütlich. Dann die ganze Ergebnislitanei, Kickers kam am Ende. 'Und 1. FC Haßfurt gegen Kickers Würzburg, 10:0'. Das kann doch nicht sein, hab ich mir gedacht. Dann bin ich in die Plattnerstraße, zur Geschäftsstelle der Main-Post. Da wurde am Sonntag um halb sechs immer der Zettel mit den Ergebnissen reingehängt. Bayernliga und Landesliga. Ich hab gedacht, ich sehe nicht recht. 10:0. Da ist mir der Heini aus dem Hinspiel wieder eingefallen. Und so ging es eben durch die Jahre durch.
Gleich die nächste Seite lässt den 72-Jährigen aber wieder aufgeregter werden. Lokalderby gegen den früheren FV 04 Würzburg. Bezeichnet Adam das Silvesterspiel gegen Nürnberg als legendär, ist dieses für ihn das Spiel der Spiele. Sein Spiel. Das 95. Lokalderby.
Adam: Und das war mein Spiel, von allen Kickers-Spielen ist das mein Spiel für immer: 31. Oktober 1964, das habe ich ja auch in der hundertjährigen Chronik. Die Leute teilweise auf den Bäumen, 7000 Zuschauer bis ganz nah am Spielfeld, ich in der Kickers-Ecke mit vielen Sanderauer Jungs. 5:1, das war ein Lokalderby, wie es im Buch steht. Auf der einen Seite Kickers, das waren echte Kickers. Die, die schon viele Jahre dabei waren: die Kanibers, die ganze Familie. Gerhard Peter, Walter Peter, der Bayers Erich und Peter Gringel. Die hast du halt gekannt. Und die sind auch dabeigeblieben. Und bei Nullvier genauso. Der Reif, der Merz, der Ott, das waren echte Nullvierer, echte "Blaubandstumpen". So wie sie auch genannt wurden. Nicht so wie heute, Spieler für ein, zwei Jahre. Das war das 95. Derby an der Randersackerer Straße. Die haben dann schon gelechzt nach dem Rückspiel, das war im April 1965 an der Frankfurter Straße. Da haben wir 1:2 verloren. Das waren urige Zeiten.
Im Zuge der Derbys kommt Adam auf einen Lapsus zu sprechen: das vergessene Derby. Ein Fehler, der allen unterlaufen war. Auch die Main-Post hatte fälschlicherweise das hundertste Derby ausgerufen - obwohl dieses schon längst gespielt worden war.
Adam: Der Gag mit den Lokalderbys war ja: Es gab eine Bilanz, und ich arbeitete gerade an der 75-jährigen Chronik. Die 50-jährige, die Festschrift, hatte ich ja da. Und da stand: 'Im Juni 28 schlagen wir den höherklassigen FV 04.' Die waren damals mal eine Klasse höher für ein Jahr. Und dann mach ich die Bilanz durch. Alte Zettel, so vergilbte, von Hans Schömig, der früher Sportredakteur bei der Main-Post war. Teilweise mit Tinte noch korrigiert. Dann habe ich nachgeschaut, Juni 28. Und dann fehlt das Derby. Haben die das Derby vom 3. Juni 1928 vergessen zu zählen! Was ist denn da los, hab ich mir gedacht. Ich bin ins Stadtarchiv, die alten Zeitungen anschauen. Ja, das war ein reguläres Spiel. Haben die das Derby vergessen! Das heißt, das für November 1970 groß angekündigte einhundertste Lokalderby war schon das Derby Nummer 101. Das habe ich dann 1981 in der 75-jährigen Chronik berichtigt. In der hundertjährigen Chronik ist erstmals die komplette Bilanz mit allen Daten. Durch Zufall! Das hundertste war die Pokalpleite im November 67, das habe ich ja auch drin. 0:5 verloren. Nullvier hat Landesliga gespielt, Kickers Bayernliga. Die sind aufgemischt worden und ich war noch mit der rot-weißen Fahne live dabei an der Frankfurter Straße. Ohje ohje.
Was, fragen die Reporter Adam, denn wohl die wertvollsten Sammelstücke seien?
Adam: Die Uralt-Sachen, die Schätze. Die hab ich hier auch gleich. Das sind diese Sachen hier. Da geht es weit zurück. Da gab es noch keine Stadionzeitungen, da sind vorm Heimspiel diese Zettel verteilt worden. Alles original. 1909, Kickers gegen Nullvier. 7:1 für Kickers, das war das vierte Derby. Ganz dünnes Papier, sowas fassen sie im Stadtarchiv nur mit weißen Handschuhen an.
Adam lacht, drückt den Reportern die Zettel in die Hand, sortiert sie danach wieder ein.
Adam: Hier, das war das allererste Spiel gegen Schweinfurt, 19:0 gewonnen. Da ist die Aufstellung. Das sind diese Zettel. 2. Januar 1910, 8:0 für Kickers gegen Bamberg. Das war der erste Punktspielgegner überhaupt, FC Bamberg. Ostmaingauklasse B, 1908. Und hier, die alten Vereinsnachrichten. 1912, 1913, das sind die urigen Dinger. Weiter zurück geht es gar nicht mehr. Das ist urig. Wichtig, dass das noch da ist.
Er klappt den Ordner zu und hebt die Stimme an.
Adam: Deswegen sage ich ja: Was wäre, wenn das draußen am Dallenberg wäre? Meine Güte! Ich wüsste keinen, dem ich das vertrauensvoll dort in die Hand drücken könnte. Die haben doch gar keinen Horizont dafür.
Die Reporter wollen wissen, ob, und wenn ja, wann er sich aktiv dazu entschlossen habe, dieses Archiv aufzubauen.
Adam: Ich hab seit Januar 1962 gesammelt, und dann habe ich Ende der Sechziger Jahre gemerkt, was ich schon alles hab. Dann kam die Vereinszeitung ab Juni 1971, das ging ja alles so schnell. Dann das 75-jährige Jubiläum 1982, da sollte ich die Chronik machen. Und ruckzuck war ich drin. Aktiv dazu entschlossen hab ich mich nie. Als junger Kerl hatte ich dafür ja gar keinen Horizont. Was ist ein Archiv? Plötzlich war das ein Archiv. Das war plötzlich eine Sache, die mich interessiert hat.
Adam erzählt nun von der Nachkriegszeit, als sich der FWK in SWK unbenannt hatte und das erst zum Jubiläum 1957 wieder änderte. Und von der Chronik, die er zum 75-jährigen Vereinsbestehen anfertigte.
Adam: Die haben mir gesagt, dass ich die Chronik machen soll. Dann habe ich gesagt: Davon gehe ich aus. Ich hab ja gesammelt, sonst war ja keiner da. Und dann hab ich gemerkt, dass einiges fehlt. Endlos war ich im Stadtarchiv und in der Unibibliothek. Ich habe mir sogar von der Uni Leipzig im Rahmen der Fernausleihe die frühen DFB-Jahrbücher schicken lassen und die durchgemacht. Oder die Süddeutsche Fußballillustrierte aus Karlsruhe. Und dann hatte ich alles. Dann musste ich zu keinem mehr hin, da konnte ich dann daheim nachschauen.
Ungefähr fünf Jahre hat Adam gebraucht, um sich sämtliche Berichte, Fotos und Anzeigen im Kickers-Kontext aus den Archiven zu kopieren. Zwischendurch hat er diese Arbeit immer mal für ein paar Wochen liegen lassen. Manchmal sei es ihm einfach zu viel geworden, sagt er.
Adam: Zum Glück gab es im Stadtarchiv eine freundliche Sekretärin. Das hat ja immer Geld gekostet. Und der hab ich gesagt: Ihr bekommt das eh irgendwann mal wieder. Dann hat sie gesagt: Kommen Sie her, Herr Adam, und dann hat sie mir das kopiert. Daheim ausgeschnitten, eingeklebt. Dadurch habe ich auch alle Tabellen. Die alten Anzeigen und so weiter. Und jetzt habe ich 99,9 Prozent.
Irgendwann war er so weit, dass er die gesamte Vereinsgeschichte komplett haben wollte. Ein weiterer Antrieb seien aber auch die Stadionzeitungen in England gewesen. Die hat er bei seinen jährlichen Reisen ab 1970 nach London beim Besuch der Spiele in der Premier League gekauft und als Vorbild genommen. Außerdem Chroniken des FC Liverpool, Arensal London, Watford FC und Everton.
Adam: Ich habe viel in England gelernt. Unbewusst, sozusagen.
Adam wird unterbrochen, das Telefon klingelt. Weder Mobiltelefon noch Laptop gibt es in seiner Wohnung. Wenige Minuten später kommt er wieder zurück.
Adam: Und jetzt kann ich alles nachschauen. Das Archiv beginnt 1903, beim allerersten Spiel im Mai 1903 in Würzburg auf dem Sanderrasen. Viktoria Aschaffenburg gegen 1. FC Bamberg, ein Werbespiel. In Würzburg war ja noch nichts. Ein Jahr später hat sich der 1. WFV 04 gegründet. Jetzt heißen sie ja wieder "04". Für mich "FV 2004". Naja, und so ist halt die Story.
Er lacht. Als wir ihn fragen, was ihm die Kickers bedeuten, wird er nachdenklicher.
Adam: Für mich persönlich ist es ein Stück Heimat. Ich kenn' die Kickers seit den 50er Jahren, als der Platz noch in der Sanderau war. Alle Ligen, alle Aufs und Abs hab ich seitdem miterlebt. Das macht's aus. Heute ist es mir etwas unpersönlich. Durch den ganzen Profizirkus. Ich kenne die Spieler nicht. Die sind für sich. Dazu habe ich keinen Draht mehr. Das ist halt Profifußball, das ist nicht so wie früher. In den 70ern waren die Kontakte noch persönlich. Das hat sich alles geändert. Aber ganz unten ist es auch ein blödes Feeling. Als wir dann plötzlich in der Bezirksoberliga waren. Oder noch schlimmer Bezirksliga. Das waren ja Mannschaften, gegen die sie früher mal Freundschaftsspiele gemacht haben. Plötzlich waren das Punktspielgegner, draußen in Erlach und so. Das war eine gewisse Demütigung. Ich habe das fast gar nicht akzeptiert. Die Bezirksliga habe ich mir nicht live angeschaut. Aber das Archiv habe ich weitergeführt, es fehlt nichts.
Die Reporter kommen auf die Jahre in der 2. Bundesliga zu sprechen.
Adam: Ich bin kein Freund der 2. Liga. Drei Mal rauf, drei Mal runter... Nullvier war seinerzeit vier Jahre drin. Die haben das aber letztlich mit dem Konkurs bezahlt. Würzburg ist keine hundertprozentige Fußballstadt, das muss man auch mal sagen. Das wird es auch nie werden. Spannend war es früher bei den Lokalderbys in der Bayernliga. Da hast du Spannung zuvor in der Stadt gemerkt. Heute, ich weiß nicht. Vielleicht bin ich auch schon zu lange dabei. Ich finde nicht mehr so viel Spaß daran.
Zurück zum Stadtderby. Adam hat eine klare Meinung: Seit 1981 gibt es für ihn keine echten Derbys mehr.
Adam: Früher war mehr los, als die in einer Liga gespielt haben. Als sie dann der neue WFV waren, haben sie sich hochgearbeitet. Das muss man anerkennen. Mit viel Arbeit und Energie. Aber es ist für mich nicht mehr dasselbe, auch wenn sie sich jetzt wieder Nullvier nennen. Die Zeiten an der Frankfurter Straße sind vorbei. Das Nullvier-Echo, die Vereinszeitung haben sie in den 70ern gerne benutzt, um auch mal gegen die Kickers zu schießen. Da gab es unter anderem den Artikel: 'Bericht von einem Sportplatz, den man Stadion nennt'. Damit haben sie uns gemeint. Immer solche Spitzen. Aber das ist lange her, das ist ja uralt. Kickers gegen Nullvier, das war das Derby von 1908 bis 1981. Und 1983 war das erste Derby beim WFV, ein Freundschaftsspiel. Ich bin da gar nicht hin. WFV ist aufgestiegen in die B-Klasse, Kickers in der Landesliga. Was soll denn das. Ich war im Dallenbergbad. Dann lauf ich hoch zum Parkplatz, dann saßen da ein paar und fragen, ob ich schon Bescheid weiß. 'Was denn?' '1:2 verloren da unten.' Ach du liebe Güte, ging das schon wieder los. Sind die ausgelacht worden.
Jetzt holt Adam einen weiteren Ordner hervor: Der Abriss des Stadions an der Frankfurter Straße.
Adam: Als das alte Stadion abgerissen wurde, habe ich alles fotografiert. Den Abriss an der Frankfurter Straße und den Neuaufbau. Von der DJK hab ich die Pläne bekommen, habe ich alles da. Das hatte ich ja auch in der 100jährigen Chronik, wie sie die alte Tribüne niedergemacht haben mit dem Bagger. Das lass ich mir ja nicht entgehen. Da war ich mit meinem Fotoapparat der einzige auf dem Platz. Dann habe ich dort meine Runden gedreht, bin dorthin, wo ich mich sonst nie hin getraut hätte. Ins Geschäftshaus und so, da war ja kein Mensch mehr dort, und hab mich umgeschaut.
Die Reporter wollen wissen, inwiefern sich die beiden Würzburger Klubs in seinen Augen unterscheiden.
Adam: Nullvier, das war früher schon der Arbeiterverein. Das war der Unterschied. Die Kickers hatten immer wieder mal einen Doktor soundso in ihrem Team. Daher die längst überholte Bezeichnung Akademikerverein. Heute ist davon nichts übriggeblieben, das sind Klischees von früher. Das gilt für beide.
Als nächstes kommt eine weitere Mappe auf den Tisch, die holt Adam aus dem Nebenraum. Es sind aktuelle Aufkleber, die die Gästefans am Dallenberg verkleben. Nach jedem Heimspiel ist Adam im Stadion und kratzt die Sticker ab, um sie dann zu Hause in seine Mappe zu kleben.
Adam: Die Kölner haben gut geklebt, muss ich sagen. Da hatte ich wieder zwei Seiten voller Aufkleber. Viktoria Köln, das ist doch urig. Hier, da siehst du mal, in welcher Welt die leben. Die Mannheimer hatten Aufkleber mit einem Metzger mit einem Hackbeil in der Hand und am Haken hängt ein Schwein, und auf dem Schwein steht 1. FCK. Solche Dinger! Unglaublich, was das für Leute sind, in welcher Welt die leben. Meine Güte! Aber das gehört scheinbar dazu. Die Rostocker, vier, fünf solcher Seiten. Ich habe alle Mannschaften seit Regionalligazeiten. Osnabrück, Hannover, Duisburg egal, wer da war. Und da siehst du, wer wen leiden kann. Die Hannoveraner haben ihre Wut auf Braunschweig, St. Pauli schießt gegen Rostock. Die Aufkleber sind echte Souvenirs fürs Archiv.
Er packt die Mappe mit den Aufklebern weg.
Adam: Wichtig war für mich, dass ich in Berlin dabei war! Ich hab mich vor dem Brandenburger Tor mit der Kickers-Fahne fotografieren lassen. Das wollte ich einmal erleben: Kickers in Berlin. Oder Hamburg. Gegen den HSV, das ist ja auch urig, ist die Bilanz ausgeglichen. Zwei Mal gewonnen, zwei Mal verloren. Aber das weiß doch kein Mensch mehr. Juni 1930, gewonnen gegen zu Hause den HSV. Oder der 5:3-Auswärtssieg beim SV Werder Bremen im Mai 1921. Das weiß doch keiner mehr, wenn man sich nicht, so wie ich, ausgiebig damit beschäftigt.
Der Umgang mit der eigenen Vereinsgeschichte ist ein wiederkehrendes Thema bei Adam. Und er nimmt kein Blatt vor den Mund.
Adam: Viele haben keine Ahnung mehr! Die Alten sind doch fast alle weg. Die Kickers-Familie. Ich mag solche Begriffe nicht. Unter Familie stell ich mir was anderes vor. Das ist mir zu unpersönlich. Das ist keine echte Gemeinschaft mehr. Alles hohle Begriffe in meinen Augen. Es ist halt so wie es ist. Ich mache das für mich noch weiter, so lange ich Lust hab. Ich bin keinem zu etwas verpflichtet. Es ist eines von vielen Hobbys. Nicht das wichtigste, aber ich mache es, solange es geht. Weil es eben interessant ist, weil ich alles hab, von 1903 bis jetzt. Die finden keinen mehr, der 60 Jahre sammelt.
Das Gespräch kommt zum Ende. Ob er sich vorstellen könnte, all das in einem Kickers-Museum zu präsentieren?
Adam: Der Thorsten Fischer ist mal mit dieser Idee auf mich zugekommen. Dazu habe ich heute keine Energie mehr. Für wen denn? Fünf Kickers-Chroniken, dazu die Chronik '600 Jahre Weinhaus zum Stachel', 60 Jahre ununterbrochen gesammelt. Ich will langsam meine Ruhe haben. Es nervt manchmal. Für ein, zwei Stunden in der Woche alles auf dem Laufenden zu halten, das geht. Dann wird wieder alles verräumt. So läuft's.
Die Reporter wollen noch wissen, welche Rolle der drohende Absturz aus dem Profifußball für ihn spielt.
Adam: Der Abstieg berührt mich wenig. Ich sehe es insgesamt positiv, was wir in den letzten Jahren erlebt haben. Wir waren an der Spitze der 3. Liga und zeitweise im oberen Mittelfeld der 2. Bundesliga. Auswärtssiege in Kaiserslautern, Magdeburg, München, und haben nach 90 Jahren wieder den HSV besiegt: Daran hätte vor zehn Jahren kein Mensch gedacht. Dazu Spiele vor 10.000 Zuschauern am Dallenberg, spannende DFB-Pokalspiele. Das hat uns aus der jahrzehntelangen Lethargie der Landes- und Bayernliga herausgeholt. Jetzt gibt es einen Neuanfang. Die Kickers haben schon andere Krisen bewältigt.
Was für ein fachkundiger, themenbezogener Kommentar ! Mann, Mann, Mann !
Und so dermaßen lustig - ich lach mich schlapp !
Also wirklich: RESPEKT ( Ironie aus ) !