
Sein allererster Sprung ging daneben. Der blinde Weitspringer Sebastian Schäfer landete auf den Pflastersteinen neben der Sandgrube. Er kam mit ein paar Prellungen davon. "Das erste Mal waren wir so blöd, und sind auf der äußeren Anlaufbahn gesprungen", erzählt Trainer Harald Büttner. Das ist nun drei Jahre her. Schäfer ließ sich davon nicht entmutigen und läuft seither mittig an.
Der 35-Jährige sieht das Absprungbrett nicht und trifft es meistens trotzdem. Wie ist das möglich? Büttner steht hinter der Grube und konzentriert sich auf den Blinden. Schäfer nimmt Anlauf. "Hier, hier, hier!", brüllt der Trainer immer lauter und in immer kürzeren Abständen. Schäfer springt ab, fliegt und landet im Sand. "Gute Körperhaltung, aber die letzten drei Schritte waren zu langsam", analysiert Büttner.
In jedem Training feilen sie an der Technik, in jedem Training verbessert sich die Wahrnehmung füreinander. Büttner ist der sogenannten Caller. Seine "Hier"-Rufe dienen dem Blinden als Anhaltspunkt für die Richtung und die Entfernung bis zum Absprung. Wenn Schäfer beim Anlauf vom Kurs abkommt, lenkt der Trainer durch einen schnellen Schritt zur Seite gegen. Die Rufe kommen dann aus einer etwas anderen Richtung. Davon bekommt der Weitspringer nichts mit. "Die Korrekturen laufen unterbewusst ab", sagt Schäfer. "Ich darf nicht nachdenken müssen: Wo bin ich?"
Schäfer war nicht immer blind, sah aber noch nie gut. Lesen lernte er in der Grundschule mithilfe einer Lupe. Leichtathletik und Fußball waren seine Hobbys. Nach und nach wurden seine Augen schlechter. Die Krankheit "Retinitis pigmentosa" ist dafür verantwortlich. Aufgrund eines Gendefekts sterben die Photorezeptoren auf der Netzhaut. "Mein Gehirn schaltet die Sehzellen nach und nach ab", erklärt Schäfer. Heute kann er nur noch erkennen, ob es gerade hell oder dunkel ist.

Der Leichtathlet musste sich darauf einstellen, irgendwann blind zu sein. "Das muss man eben annehmen, wie es ist", sagt Schäfer während des Trainings auf dem Tartanplatz. "Klar könnte ich auch jammern, aber ich will unbedingt Sport machen." Harald Büttner und dessen Ehefrau Jutta unterstützen ihn dabei. "Mit denen habe ich einen guten Fang gemacht", sagt Schäfer über das Trainerpaar.
Jutta Büttner war selbst Weitspringerin und trainiert mit Schäfer den Bewegungsablauf und die Sprungphasen. Weil man dem Blinden die Übungen nicht einfach vormachen kann, muss sie die Bewegungen sehr genau beschreiben. Vor dem Anlauf richtet sie außerdem den Athleten aus. Nur als Team gelingt der Sprung.
Seine Krankheit hinderte Schäfer nicht daran, Jura zu studieren. In Würzburg machte er sein Rechtsreferendariat. Heute arbeitet der vollblinde Volljurist in Frankfurt. Alle zwei Wochen kommt er nach Unterfranken, um in der Feggrube der Turngemeinde Würzburg (TGW) zu trainieren. "Zu selten", wie Schäfer zugibt. Denn er hat ein hochgestecktes Ziel: die Paralympischen Spiele.
Schäfers Bestleistung im Weitsprung liegt bei 5,20 Meter
"Da fehlt mir noch ein Meter", sagt der Weitspringer. Seine Bestleistung beträgt 5,20 Meter. Die Bayerische Meisterschaft war schnell entschieden, weil er der einzige Starter war. Bei seinen ersten internationalen deutschen Meisterschaften der Para-Leichtathletik gewann er im Jahr 2016 die Bronzemedaille. Weil er sich beruflich neu orientierte, nahm er zwei Jahre nicht an Wettkämpfen teil. Im Juli holte Schäfer bei den internationalen deutschen Meisterschaften die Silbermedaille.
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Durch seine Leistungen bei diesem Wettkampf ist Marion Peters auf ihn aufmerksam geworden. Die Bundestrainerin der Para-Leichtathleten war sehr erfreut darüber, dass ein deutscher Springer über fünf Meter sprang. Zudem mache Schäfer einen "sehr gut organisierten und vorbereiteten Eindruck" auf sie. Im Gespräch mit dieser Redaktion machte sie jedoch auch deutlich, dass die Weltspitze "noch weit weg" sei. Profis trainieren ihr zufolge zehn Einheiten in der Woche. "Damit wir seinen Leistungsstand besser beurteilen können, kann er mit einer Einladung zu einem Lehrgang in Kienbaum rechnen", sagte Peters. Dort befindet sich das Olympische und Paralympische Trainingszentrum der deutschen Athleten.

Den Weltrekord der vollblinden Weitspringer hält der US-Amerikaner Elexis Gillette mit 6,73 Meter. Im Vergleich zum Weitsprung der nichtbehinderten Athleten ist die Absprungzone beim Blindenweitsprung länger. Weil sich die Blinden über das Gehör orientieren, ruft der Kampfrichter bei Wettbewerben auch mal: "Ruhe an der Weitsprunggrube", erzählt der pensionierte Sportlehrer Büttner.
Ruhig ist es an diesem Tag im Stadion der TGW nicht. Nebenan findet ein Rugby-Turnier statt. Zum Aufwärmen läuft Musik, lautstark schwören sich die Spieler ein, Stadionsprecher verkünden den Spielstand über Durchsagen. Schäfer lässt sich davon nicht aus der Ruhe bringen. "Das ist wie Regen für Autofahrer. Es stört ein bisschen, aber man kommt schon an", vergleicht er die Situation.

Bei Wettkämpfen muss Schäfer eine Maske über den Augen tragen. So sehen es die Regeln vor. Auch beim Training trägt er die Augenbinde. "Ist er wirklich blind, oder ist das eine neue Übungsmethode?", fragt ein Zuschauer des Rugby-Turniers den Trainer, als er Schäfer mit verbundenen Augen springen sieht. "Vollblind", sagt Büttner, "aber seinen Sprüngen sieht man das nicht an."