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KARLSTADT
Wenn die Blindheit zur Nebensache wird
Bayram Tören (rechts) leitet mit seinem Geschäftspartner Dominik Hammer seit zwei Jahren eine eigene Praxis für Physiotherapie
Foto: Marcus Meier | Bayram Tören (rechts) leitet mit seinem Geschäftspartner Dominik Hammer seit zwei Jahren eine eigene Praxis für Physiotherapie
mei
 |  aktualisiert: 03.12.2019 10:30 Uhr

10 Uhr früh bei Main Physio in Karlstadt: Es herrscht Hochbetrieb, wie fast jeden Tag. Bayram Tören läuft zielstrebig durch die 400 Quadratmeter seiner Physiotherapiepraxis. Weist hier neue Kunden in den Gesundheits-Zirkel mit modernen Fitnessgeräten ein, hält einige Meter weiter einen kurzen Plausch mit seinen Mitarbeitern, behandelt ein paar Augenblicke später einen Patienten punktgenau mit seinen Händen. Ein ganz normaler Physiotherapeut sollte man meinen. Mit einer kleinen Besonderheit: Bayram Tören ist blind.

Am 6. Juni findet alljährlich der Sehbehindertentag statt. Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband hat im Jahr 1998 den bundesweiten Aktionstag ins Leben gerufen, um auf die Bedürfnisse von sehbehinderten Menschen hinzuweisen.

„Im Alter von 17 Jahren erfuhr ich, dass ich an Retinitis Pigmentosa leide und innerhalb weniger Jahre erblinden werde“, erzählt der 50-Jährige über den Moment vor über 30 Jahren, in dem sich sein Leben grundlegend ändert. Damals lebte der gebürtige Türke seit sieben Jahren in Deutschland, wohnte mit seinen Eltern bei Wiesbaden und war stolz, dass er die anfänglichen Sprachprobleme in der Schule aufgeholt hatte. Er stand mitten in der Ausbildung zum Wärme-Kälte-Schallschutzisolierer, die er trotz der zunehmenden Seheinschränkung und mit Unterstützung des Ausbildungsbetriebs noch erfolgreich abschloss. Trotzdem war klar, dass es im erlernten Beruf wegen der Sehprobleme nicht weitergeht.

Für Licht am Ende des Tunnels sorgt kurze Zeit später ein Kontakt nach Unterfranken. Am Berufsförderungswerk Würzburg, einem Bildungszentrum für sehbehinderte Menschen, gebe es berufliche Perspektiven, brachte sein Ausbildungsbetrieb in Erfahrung.

„Ich dachte zunächst wieder an einen Beruf mit Elektronik oder im Handwerk“, erzählt Bayram Tören. „Das konnte ich mit der anstehenden Erblindung aber vergessen“. Masseur hieß nach dem Erlernen der Punktschrift die für ihn interessanteste berufliche Alternative. Die ergriff der inzwischen verheiratete Tören auch, weil sich zuhause bei Wiesbaden schon Nachwuchs angekündigt hatte. „Es musste Kohle reinkommen“, sagt Tören mit seiner direkten Art und muss lachen. „Naja, das hat dann auch gut geklappt.“ Zudem er in den Berufsförderungswerken in Würzburg und Mainz auch lernt, wie er mit dem Langstock selbstständig von A nach B kommt. „Dafür bin ich heute noch sehr dankbar“, sagt der Physiotherapeut.

Mit der Blindheit leben

Nach der Ausbildung findet Bayram Tören schnell einen Job als Masseur im Würzburger Nautiland, 1990 kommt sein Sohn Cem zur Welt. Einfach war die Zeit trotzdem nicht. Er pendelt täglich mit öffentlichen Verkehrsmitteln und ohne fremde Hilfe von Karlstadt zu seinem Arbeitgeber in die Würzburger Zellerau. Berufsbegleitend macht er in Schweinfurt eine Fortbildung zum Physiotherapeut. Hinzu kommt die schwierige psychische Situation. „Ich musste lernen, mit meiner Erblindung klarzukommen. Gleichzeitig hatte ich Sorge um meine Eltern, die sich mit meinem Handicap sehr schwer getan haben.“

Beruflich orientierte sich der Physiotherapeut nach neun Jahren in Würzburg hin zu seiner neuen Heimat Karlstadt. Dort ist arbeitet er fünf Jahre Seite an Seite mit seinem Kollegen Dominik Hammer in einer Physiotherapiepraxis. „Wir sind von Anfang an sehr gut miteinander ausgekommen“, erinnert sich Tören. Zudem sei Dominik als Kollege optimal mit seiner Blindheit umgegangen. „Er hat viel Fingerspitzengefühl und hilft nur dort, wo es nötig ist“. Zudem zeigt sich, dass die Physiotherapeuten fachlich und menschlich gut zusammenpassen.

Selbstständigkeit als Ziel

Schnell schmieden die beiden Kollegen Pläne für eine gemeinsame Praxis und begutachten erste Objekte. „Dominik hat damals extra Grundrisse von möglichen Praxisräumen erstellt, die ich ertasten konnte“, berichtet Tören. „Das war einfach toll.“ Das Kompliment bekommt er von seinem Geschäftspartner postwendend zurück. „Bayram macht es uns Sehenden auch leicht, ohne Berührungsängste auf ihn zuzugehen“, macht der 28-Jährige klar. Das merke man auch am natürlichen und zwanglosen Umgang der Kunden mit Törens Handicap. „Bayram hat eine sehr offene Art, seine Blindheit geht so im Alltag völlig unter.“ – „So soll das auch sein!“, lautet die prompte Antwort seines heutigen Geschäftspartners.

2016 ist es soweit: Bayram Tören eröffnet mit Dominik Hammer in Karlstadt das Gesundheitszentrum Main Physio. Das Konzept mit Gesundheitszirkel, medizinischer Therapie und Wellnessangeboten geht auf. Es gibt in den nächsten Monaten so viel Arbeit, dass die beiden Inhaber nach und nach vier weitere Therapeuten, drei Trainer und zwei Kolleginnen für die Anmeldung einstellen. Heute, nach gut zwei Jahren, hat die Praxis neben den beiden Chefs neun Angestellte.

Ohne Langstock in der Praxis unterwegs

Bei der schriftlichen Dokumentation am PC nutzt Bayram Tören täglich seine Braillezeile, mit der er alle Computerinhalte in Punktschrift ertasten kann. Therapeutisch gibt es wegen seiner Blindheit keine Einschränkungen, jeder der beiden Physiotherapeuten hat neben den klassischen Therapieformen seine Spezialgebiete. Die eigene Praxis kennt Bayram Tören inzwischen natürlich wie seine Westentasche, er ist ohne Langstock auf den zwei Stockwerken unterwegs. Ab und gibt es bei den vielen neuen Mitarbeitern noch eine kleine Herausforderung. „Manchmal vergessen die Kollegen, einen Schritt zur Seite zu gehen, wenn ich im Anmeldebereich angesaust komme“, berichtet der Physiotherapeut. Das ist dann aber auch nicht wirklich tragisch. „Nach zwei, drei unfreiwilligen Zusammenstößen funktioniert das dann sehr gut.“ Spätestens dann wird seine Blindheit endgültig zur Nebensache.

Retinitis Pigmentosa

Bei Retinitis Pigmentosa (RP) handelt es sich um eine Gruppe erblicher Augenerkrankungen. Bei allen RP-Formen kommt es es zu einem schrittweisen Absterben der Netzhaut. Erste Symptome, die häufig im Jugendalter oder als junger Erwachsener auftreten, sind ein gestörtes Sehvermögen in der Dämmerung und eine beginnende Einengung des Gesichtsfeldes.

Das Gesichtsfeld schränkt sich bei Betroffenen meist von außen nach innen ein, bis nur noch ein kleiner zentraler Sehrest übrig bleibt. Dieser Sehrest wird als „Tunnelblick“ oder „Röhrengesichtsfeld“ bezeichnet. Betroffene sehen nur noch Gegenstände, die sie direkt fixieren. Objekte außerhalb der Blicklinie können nicht mehr erkannt werden. Bei schwerem Verlauf führt RP zur Erblindung.

Trotz intensiver Forschung ist bisher keine Therapie möglich, mit der die Krankheit gestoppt werden kann. Weltweit sind rund drei Millionen Menschen an RP erkrankt, in Deutschland sind es etwa 30 000 bis 40 000 Menschen. Rund 700 Betroffene leben im Raum Unterfranken. (MEI)

 
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