Den August 2024 hat Hubert Scheuer schon verplant. Dann wird er im schwedischen Göteborg sein, um an den Leichtathletik-Weltmeisterschaften der Seniorinnen und Senioren teilzunehmen. Gedanken darüber, ob seine körperliche Verfassung bis dahin noch ausreichend sei, gibt es bei ihm nicht. Der Würzburger gehört international zu den Top-Athleten in seiner Altersklasse. Das Alter sieht man dem Sportler nicht an. Sein Geheimnis: "Das kommt, weil ich im Kühlfach übernachte", sagt er augenzwinkernd.
An einem Dienstagnachmittag sitzt der 85-Jährige an einem Tisch der Gaststätte am Würzburger Sportzentrum Feggrube, die Haut noch sichtlich gebräunt von den zurückliegenden Wettkämpfen in Italien: weiße Haare, Sonnenbrille, breites Lächeln. Vor ihm liegen fünf Medaillen: zweimal Silber, dreimal Bronze. Er hat sie in Pescara, Italien, gewonnen, wo der ehemalige Gynäkologe Ende September an Leichtathletik-Europameisterschaften teilgenommen hat. Zusammen mit etwa 6500 anderen Athletinnen und Athleten im Alter von 35 bis über 90 Jahre, die in den Masters-Klassen starten.
Den Werfer-Fünfkampf hat Scheuer wegen vorzeitiger Abreise verpasst
Scheuer ist dort in fünf Wurfdisziplinen angetreten: Diskus, Gewichtwurf (beide Silber), Speer, Kugel und Hammer (jeweils Bronze). Nur am anschließenden Werfer-Fünfkampf konnte er nicht mehr teilnehmen, da dieser Wettbewerb in der zweiten Woche stattgefunden habe, er aber zusammen mit einem Sportsfreund schon nach der ersten Woche abgereist sei, weil dieser seine Frau zu Hause pflegen müsse. "Da wäre ich Europameister geworden", glaubt er.
Aus einer Gerätegarage am Sportplatz holt sich Scheuer das, was er heute für das Training braucht. Zunächst greift er sich die gelbe Kugel, von der schon ein wenig die Farbe abblättert. Er stellt sich in den Ring, holt Schwung und stößt die drei Kilogramm schwere Kugel einige Meter weit auf die Wiese. "Für einen 85-Jährigen nicht schlecht, oder?", scherzt er. Bei der EM stieß er die Kugel auf 8,04 Meter, acht Zentimeter mehr als der Viertplatzierte.
Scheuers Trainer Harald "Harry" Büttner kann diesmal nicht dabei sein. "Den kann man gut erwähnen, den Burschen. Der kniet sich richtig rein", sagt der 85-Jährige über seinen Coach, der ihn "liebevoll betreut und immer wieder motiviert". Scheuer hofft, dass die beiden "noch lange zusammenarbeiten".
Rund um die Wettbewerbe in Pescara, einer Küstenstadt an der Adria im Osten Italiens, hat Scheuer fast so etwas erlebt wie ein olympisches Dorf. Sämtliche Athletinnen und Athleten hätten sich an ihrer jeweiligen Kleidung erkennen können, berichtet Scheuer, der auch an diesem Dienstag das vom Deutschen Leichtathletik-Verband vorgegebene rote T-Shirt mit der Aufschrift "Germany" und einer kleinen schwarz-rot-goldenen Flagge trägt.
"Es war eine wunderbare Atmosphäre", findet der Würzburger, der 1938 in Hamburg geboren und 1960 durch das Studium nach Würzburg gekommen ist. Überall seien man angesprochen worden: beim Frühstück im Hotel, im Bus zum Stadion, auf den Straßen in der Stadt. "Sport verbindet", weiß Scheuer.
Er erinnert sich an einen Norweger, der ihn auf Deutsch angesprochen habe. Im Gespräch habe sich herausgestellt, dass der Skandinavier eine deutsche Mutter habe. Der Mann, Jahrgang 1937, war nur für den Wettbewerb im Diskuswurf von Norwegen nach Pescara gereist.
Auf dem Sportplatz ist als nächstes jene Scheibe an der Reihe, die einst muskulöse Männer im antiken Griechenland durchs Stadion schleuderten: der Diskus, so etwas wie Scheuers Paradedisziplin, mit der er in Pescara eine von zwei Silbermedaillen gewann. Er demonstriert die richtige Technik, wie der Diskus in der Hand liegen muss.
Dann stellt er sich auf, rotiert mit dem Oberkörper und wirft die Scheibe einmal mehr beachtlich weit. In Pescara gelangen ihm dabei 22,84 Meter. Auf mehrere Drehungen vor dem Abwurf verzichtet er an diesem Tag, denn dafür habe er nicht die passenden Schuhe an, zu groß sei dann die Verletzungsgefahr.
Scheuers Botschaft lautet: Mit Sport das Leben positiv beeinflussen
Bei den Europameisterschaften habe es eine Menge besonderer Athletinnen und Athleten gegeben, berichtet Scheuer. Männer, die mit 90 Jahren noch im Stabhochsprung antreten oder den 100-Meter-Sprint mit 50 Jahren noch in 11,4 Sekunden laufen. Oder eine Mutter, Mitte 30, die bei der Siegerehrung ihr Kind, das sie gerade noch stillte, in die Arme eines Angehörigen gab. Oder eben Scheuer, der mit 85 fünf Medaillen holte. Dabei traten in jeder Disziplin selbstredend mehr als drei Teilnehmer an, sodass Edelmetall für ihn keineswegs sicher gewesen war.
"Mit Sport kann man sein Leben positiv beeinflussen", betont Scheuer immer wieder. Das ist seine Botschaft. Ihm selbst gehe es überhaupt nicht darum, mit seinen Leistungen, die zweifellos herausragend sind, anzugeben. Er wolle vielmehr ein Plädoyer für Bewegung im Alter halten. "Man kann sein Leben verschönern", sagt er. Wenn man sich Scheuer – gut gelaunt, zufrieden, agil – anschaut, kann man nur zur Erkenntnis kommen, dass das genau so stimmt.