Ralf Santelli hat ein paar Spickzettel im Gepäck. Die mit Stichpunkten versehenen DIN-A4-Blätter braucht der 51-Jährige aber nicht. Sie bleiben nach einem kurzen Blick auf das Papier im Sportrucksack, die Ecken lugen etwas heraus. Als wollten sie dem Fußballlehrer noch helfen, ihn vor einer auf Kamera aufgezeichneten Wissenslücke bewahren. Ihre Angst ist unbegründet.
"Ich wär' soweit", sagt der Cheftrainer des Nachwuchsleistungszentrums (NLZ) des FC Würzburger Kickers, zupft noch kurz den Kragen seines hellblauen Polohemds zurecht. Das Ansteckmikro hatte das Revers etwas vertüdelt. Der Kameramann streckt den Daumen in die Höhe. Erste Aufnahme, erstes Taktiksystem.
Santelli soll in zwei, drei Minuten das 4-3-3 erklären. Es folgt: eine Demonstration. Der Deutsch-Italiener verhaspelt sich nicht, der Aufbau seiner Erklärung ist stringent, die vorgegebene Länge eingehalten. Zum hochgestreckten Daumen des Kameramanns gesellen sich zwei weitere: Die der beiden anwesenden Redakteure, die zudem noch ein paar verblüffte Mienen spendieren.
Taktik ist Santellis Job
Zugegeben: Zwar sind die Redaktionsräume für Santelli neu, dennoch ist die Aufgabe für ihn ein Heimspiel. Der Inhaber der Uefa-Pro-Level-Lizenz, der höchsten Qualifikation für Trainer, beackert in den Videos sein Steckenpferd. Santelli, seit Juli vergangenen Jahres Teil der Rothosen, ist Cheftrainer im Würzburger Bundesliga-NLZ. Taktische Systeme verständlich zu erklären, ist sein Job.
Statt einer Kameralinse hat der gebürtige Waiblinger in der Regel eine Schar Nachwuchsfußballer vor sich. 150 Jugendspieler streben in Würzburg von der U12 bis zur U19 ihren Traumberuf Profikicker an. Das Einzugsgebiet des NLZ hat einen Radius von etwa 100 Kilometern, die jüngeren müssen die Strecke mehrmals pro Woche bewältigen. Anders bei den 16-Jährigen und darüber, die teilweise im Würzburger Julianum leben und am Deutschhaus-Gymnasium zur Schule gehen.
Ziel: Ein Nachwuchsspieler pro Jahr soll den Sprung zum Profi schaffen
Es benötige viel harte Arbeit, um die Jonglage von Schule und Fußball zu meistern. Dabei sind die Erfolgsaussichten eher gering. "Wenn du einen Nachwuchsspieler pro Jahr in den Profibereich führst, hast du einen richtig guten Job gemacht", sagt Santelli. Das mittelfristige Ziel: Die U19 und U17 der Würzburger, aktuell jeweils in der Bayernliga unterwegs, in die Bundesliga zu führen - "um den Sprung in den Drittligakader zu vereinfachen".
"Der eine hat zu kämpfen, dem anderen fällt es leichter. Es ist eben eine Ausbildung", erklärt der 51-Jährige. Taktik nimmt im modernen Fußball eine gewichtige Rolle ein - überfordert das die Jugendlichen? "Nein, das sehe ich nicht so. Es ist eher das Gesamtpaket, das den Weg zum Profifußballer anspruchsvoll macht." Die Ausbildung im Klassenzimmer und auf dem Rasen, die weiten Fahrten, die Entfernung zur Familie: "Wie die Jungs damit zurecht kommen, ist entscheidend."
Natürlich sei es anstrengend, aber "die Fußballer sind da gut gebettet. In anderen Sportarten hat es der Nachwuchs viel schwieriger". Wer es nicht schafft, profitiert trotzdem von der Ausbildung. Es sei nicht selten, dass gescheiterte Fußballerkarrieren erfolgreich in der Wirtschaft oder der Politik mündeten. Schlagworte wie Durchsetzungsvermögen und Teamfähigkeit fallen.
Kein Widerspruch zu Magaths Aussagen
Bei den Kickers hat inzwischen Felix Magath als Fußball-Boss des Sponsors Flyeralarm das Sagen. Bei seiner Vorstellung kritisierte der ehemalige Meistertrainer die "Überhöhung der Taktik". Für Santelli, bei dem die taktische Ausbildung "einen hohen Stellenwert" hat, ist das allerdings kein Widerspruch. "Felix Magath hat eine große Expertise und viel Erfahrung. Aber in meinen Augen ergänzt sich das eher. Wir geben dem Nachwuchs die Grundlagen mit. Weiter oben wird dann modifiziert."
Es klingt nach mehr als nur Grundlagen, wenn Santelli beginnt, über Taktik zu sprechen. Der Fußballlehrer, der zuvor unter anderem bei RB Salzburg, beim VfB Stuttgart und bei Jahn Regensburg gearbeitet hat, braucht keine Spickzettel - das wird im Gespräch noch deutlicher als vor der Kamera. "Profis wechseln heutzutage teilweise drei, vier Mal pro Spiel das System. Eine beachtliche Leistung", sagt er. Den Nachwuchs bilde man dagegen in zwei Systemen aus, mehr dürfe man nicht fordern.
Die Viererkette als elementarer Baustein
In beiden Systemen, die Santelli schult, ist die Viererkette in der Abwehr ein grundlegendes Element. Es ist eine kleine Geschichtsstunde, wenn der Fußballlehrer über die Genese dieser taktischen Variante referiert. Wenn er erzählt, vom Schuhverkäufer Arrigo Sacchi, der diesen Kniff Ende der 1980er-Jahre als Trainer des AC Mailand erstmals angewandt hatte. Von der Aufgabe, die Legenden wie Paolo Maldini oder Carlo Ancelotti in diesem System hatten. Von der Mannschaft als Kollektiv, das sich als intelligente Einheit über den Rasen bewegt.
Vielleicht liegt es an den etwa 1000 Kilometern, die zwischen Sacchis Heimat in Fusignano in der Provinz Ravenna und Santellis Wurzeln im süditalienischen Kalabrien liegen, dass der bei Stuttgart geborene Sohn eines italienischen Gastarbeiters grundsätzlich eine andere Art des Fußballs bevorzugt. Bei Sacchis System ging es um Ballkontrolle, um korrektes Verschieben in der Defensive. Die Stürmer waren weit weniger im Fokus, sie sollten reagieren, nicht agieren. Der AC Mailand wird in Sacchis Premierensaison zwar Meister der Serie A, erzielt aber nur 43 Tore. Nichts für Santelli. "Ich gewinne lieber 3:1, als 1:0", sagt er lachend.
Liverpools 4-3-3 als Lieblingssystem
Liverpools von Klopp geprägter Heavy-Metal-Fußball kommt da schon eher nach dem Geschmack des Würzburger NLZ-Leiters. "Das 4-3-3 gefällt mir am besten. Offensiv ausgerichtet, mit viel Bewegung nach vorne", sagt Santelli mit seinem schwäbischen Akzent. "Wie Liverpool das macht, vor allem mit der Rotation im Angriff, ist herrlich." Denkt der 51-Jährige dagegen an ein System mit fünf Mann in der Abwehrkette, vergeht es ihm angesichts der "Tiefenstaffelung. Diese defensive Ausrichtung ist gar nichts für mich".
Zu Italien hat Santelli noch immer eine starke Bindung. Jedes Jahr im Sommer zieht es ihn zurück in die Stiefelregion, ans ionische Meer. Es gibt sogar die Überlegung, nach seiner Karriere im Profisport auszuwandern. Dorthin, von wo sein Vater 1960 in Richtung Deutschland aufgebrochen war, nach Kalabrien. In das Land, in dem der "Catenaccio", der als "Türriegel" betitelte, stark defensiv geprägte Fußball erfunden worden war. Doch aller Verbundenheit zum Land seines Vaters zum Trotz - taktisch gesehen bleibt Santelli wohl immer Anti-Italiener.
Taktik im Video: Santelli erklärt das 4-3-3
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