Dass der Trainer einer Basketball-Bundesliga-Mannschaft den Kontrahenten auch öffentlich beglückwünscht, wenn der gewonnen hat, ist Usus und gehört zum guten Ton. Dass einer freilich dem Gegner zu einem "tollen Spiel" gratuliert, wie Denis Wucherer am Sonntagnachmittag seinem Kollegen Alejandro "Aito" Garcia Reneses, kommt nicht ganz so häufig vor. Der Coach von s.Oliver Würzburg ist ein Fan des deutschen Vizemeisters Alba Berlin und hatte mit seiner Mannschaft soeben eine kräftige Tracht Prügel kassiert von den Hauptstädtern. 82:110 (38:60) stand am Ende auf der Anzeigetafel - den Unterschied zwischen den beiden Teams aber spiegelte die 28-Punkte-Differenz nur unzulänglich wider, weil er größer war als eine Klasse. Was angesichts des Pokal-Achtelfinales vor drei Wochen, als die Würzburger lange Zeit sehr gut mitgehalten hatten und letztlich höher unterlegen waren (81:92), als das Spielgeschehen es eigentlich hergegeben hatte, dann doch etwas überraschte.
Am Sonntagnachmittag lagen die Baskets zwischenzeitlich gar mit 33 Zählern hinten (46:79, 68:101), und ihre Anhänger mussten befürchten, dass es eine neue höchste Niederlage der Vereinsgeschichte (ein 54:95 im Play-off-Viertelfinale am 8. Mai 2016 in Bamberg) setzen könnte. Dass es dazu nicht kam, lag zum einen daran, dass die Berliner die Partie nicht mit Vollgas zu Ende spielten. Zum anderen auch daran, dass die Baskets in der zweiten Halbzeit sich etwas mehr wehrten als zu Beginn. Herauszufinden, ob Würzburgs Bundesligabasketballer schon jemals 110 Punkte kassierten, wäre eine nette Aufgabe für einen Archivar.
"Manchmal trifft man auf eine Mannschaft, die einen Basketball-IQ hat, der seinesgleichen sucht", meinte Wucherer, der "diese großartige Mannschaft" auch europaweit zu den Spitzenteams zählt und in ihr die einzige Mannschaft sieht, die Meister Bayern München "das Wasser reichen kann". Nur 40 Stunden vor ihrem Auftritt in der laut Klub ausverkauften s.Oliver Arena in Würzburg hatten die Berliner in der Euroleague beim FC Barcelona gastiert, wo sie am späten Freitagabend mit 84:103 unter die Räder gekommen waren. Wer gehofft hatte, dass diese (Reise-)Strapazen den Berlinern noch in den Knochen stecken könnten, war gewaltig auf dem Holzweg. "Die ersten fünf bis sieben Minuten haben uns dann schon etwas schockiert", gestand Wucherer. Gerade einmal dreieinhalb Minuten benötigte Alba, um erstmals zweistellig in Führung zu gehen (13:3), gegen Ende des ersten Abschnitts lagen die Berliner dann bereits mit 20 Zählern vorne (32:12) - vor allem auch dank einer unfassbaren Trefferquote aus der Ferne: Erst der elfte Dreierversuch der Albatrosse landete nicht im Korb der Baskets, die ersten zehn rauschten allesamt durch die Reuse.
"Den Trip der Berliner nach Barcelona sollte man nicht überbewerten", meinte Wucherer, "wir hatten das in der vergangenen Saison ja auch immer wieder, als wir international spielten. Und Alba hat ja auch einen Kader, der das erlaubt." Und weil bei den Baskets in der ersten Hälfte auch ziemlich einfache Würfe nicht ihr Ziel fanden, "war das natürlich auch hochgradig frustrierend. Es hat heute halt einfach nicht funktioniert", sagte Wucherer, der mit ansehen musste, wie seine Mannen so gar keinen Zugriff auf die Partie bekamen. Und mit Fouls konnten sich die Würzburger auch nicht behelfen - gerade einmal sechs machten sie in den ersten 20 Minuten. Berlin spielte einfach zu flott, um sich foulen zu lassen. Etwas zufriedener war der 46-Jährige dann mit dem Auftritt nach der Pause, als die Hausherren zwar auch keine wirkliche Chance hatten, wieder in Schlagdistanz zu kommen, aber zumindest sich nicht ganz aufgaben. "Die Art und Weise, wie sie uns auseinander genommen haben, in welcher Perfektion sie uns seziert haben, da erholst du dich dann nicht mehr", so Wucherer. Auch wenn er meint, dass es in Halbzeit zwei "zumindest offensiv ganz okay" war: "Berlin ist einfach zu stark, um uns zurückkommen zu lassen."
Und so mussten Wucherer und seine Mannschaft sogar erstmals in seiner Amtszeit sich ein paar Pfiffe anhören von den Rängen. "Berlin hat den Ball sehr gut geworfen und hochprozentig getroffen. Es hat sein Spiel durchgezogen. Wir dagegen sind ein bisschen langsam reingekommen ins Spiel, und eine Mannschaft wie Berlin bestraft das, wir sind zu keiner Phase dann mehr rangekommen", meinte der mit 21 Punkten treffsicherste Würzburger Cameron Wells.
Weil sich Brekkott Chapman im Training seinen Meniskus angerissen hatte und monatelang, vermutlich bis Saisonende, ausfallen wird, ist die Statik der Mannschaft etwas wackeliger geworden. Chapman, den Wucherer als Schlüsselspieler auserkoren hatte, hatte mehrfach angedeutet, dass er eine wesentliche Stütze des Teams hätte werden können - nun sind die Baskets auf der Suche nach einem Ersatz. "Wir arbeiten mit Hochdruck daran", sagte Wucherer, dem es gar nicht so schlecht zupass kommt, dass ausgerechnet in dieser Phase die Platzhirsche der Liga in Würzburg aufkreuzen. Nächsten Sonntag kommt der Titelverteidiger aus München an den Main. "Gegen Berlin und Bayern hast du nicht so den Druck, unbedingt gewinnen zu müssen", meinte er und grinste.
Offensichtlich haben die Würzburger tatsächlich schon ihre Fühler ausgestreckt nach einem Neuen und mehrere Kandidaten auf der Liste, wollen bei der Verpflichtung aber nicht in zu große Hektik verfallen. Vielleicht auch wegen der jüngsten Erfahrung mit Victor Rudd, den sie vor einer guten Woche unter Vertrag genommen haben. Gegen Berlin erkannte man durchaus Fortschritte bei dem 28-jährigen Amerikaner, der für Tel Aviv und ZSKA Moskau schon in der Euroleague aufgelaufen war. "Er hat immerhin eine ganze Trainingswoche verletzungsfrei überstanden", scherzte Wucherer, der große Stücke auf seinen neuen Großen hält. Aber unzufrieden ist mit dessen körperlicher Verfassung. Auf sechs bis acht Wochen Trainingsrückstand taxiert Wucherer den Mangel, den es nun halt während des Spielbetriebs zu eliminieren gelte.