Jetzt ist er also auch noch in der richtig großen Kultur angekommen. Auf dem planetenweit größten Stelldichein für Literatur. Als er am Donnerstagabend im Schauspielhaus neben der Oper die Bühne betritt, erheben sich die knapp 700 Menschen im Saal von ihren Sitzen und spenden ihm ziemlich lange Applaus im Stehen. Obwohl er noch nichts anderes macht als auf einen Tisch zuzugehen, an dem zwei Menschen sitzen, und auf den noch freien Stuhl zwischen ihnen sich zu platzen. Als dann genügend Fotos und Videos mit den Smartphones geschossen sind, setzt sich auch das Publikum wieder. Willkommen auf der Frankfurter Buchmesse, Dirk Nowitzki.
Dass ihm Menschen im Stehen huldigen, ist Nowitzki gewöhnt, nicht erst seit Anfang des Jahres, als das regelmäßig geschah auf seiner bis Mitte April andauernden Abschiedstournee durch die Basketballarenen der USA, als ihn selbst die Anhänger des Gegners in deren Hallen bejubelten. Dass dies in einem Kulturtempel bereits vor Beginn einer Aufführung geschieht, hat gewiss Seltenheitswert. Spricht zum einen nicht zwingend für typisches Publikum in solchem Haus. Zum anderen natürlich auch für Status und Ruf, den sich der gebürtige Würzburger mit seiner Lebensleistung erarbeitet hat.
Kommende Woche beginnt die NBA-Saison. Es ist die erste seit zwei Jahrzehnten und einem Jahr, die ohne Dirk Nowitzki stattfinden wird, der alle 21 Spielzeiten seine Knochen für die Dallas Mavericks hingehalten hat. Einzigartig in der stärksten Basketballliga der Welt. "Das wird bizarr werden", schwant ihm. Er war seit seinem letzten Spiel am Mittwoch, 10. April 2019, als er um 21.12 Uhr in San Antonio, Texas, das NBA-Parkett für immer verließ, in keiner Turnhalle mehr. "Ich habe kein Work-out gemacht." Dafür Eis zum Frühstück gegessen und die jahrelange Askese mit strengem Ernährungsplan zumindest zwischenzeitlich in die Tonne getreten. "Ich hoffe, dass ich nicht alle Mavs-Spiele schauen und nicht zu allen 41 Heimspielen hinrennen werde ", sagt er und weiß: Er wird mehr schauen, als er sich jetzt vornimmt.
"The Great Nowitzki" heißt das Buch, weshalb der 41-Jährige, der auf Heimatbesuch weilt, an diesem Donnerstagabend in Frankfurt sich beklatschen lässt. Thomas Pletzinger heißt der Autor des 500-Seiten-Werks über den besten europäischen Basketballer, den das Mutterland dieses Sports je gesehen hat. Es ist eines von vielen Büchern über die Sport-Ikone Nowitzki. Es ist das einzige, das Nowitzki jemals in diesem Rahmen mit vorgestellt hat. "Hat er gut gemacht", meint Nowitzki in seinem typisch lakonischen Ton und grinst, wie es ein 41-Jähriger eigentlich nicht mehr tut. Lausbubengesicht. Er kann auch nach über 20 Jahren in den USA noch nicht ganz den Unterfranken verleugnen, der, wenn er was gut findet, doch stets ein wenig fremdelt mit überschwänglichem Lob.
Überschwängliches Lob wäre in diesem Fall auch ziemlich übertrieben. Pletzinger hatte das Privileg und kann sich rühmen dafür, dass er offenbar einen Zugang zu Nowitzkis Ziehvater, persönlichen Trainer, Manager, Vertrauten und Freund Holger Geschwindner gefunden hat, der ihm den Zugang zu Nowitzki gewährte. Auf der Bühne in Frankfurt erzählt Nowitzki, dass er anfangs zweifelte: Es waren schon einige Bücher erschienen, der Dokumentarfilm "Der perfekte Wurf" war am Werden, und nun der Nächste, der ihm andauernd hinterherlatscht und Fragen stellt und dabei sein will. Eigentlich wollte Nowitzki es nicht und war dem Projekt gegenüber "negativ eingestellt". Aber: "Thomas ist ein netter Kerl, also habe ich gesagt: Wir machen es."
Sieben Jahre lang, seit 2012, durfte Pletzinger den Basketballer eng begleiten. Und deshalb wahrscheinlich so nahe an ihn herankommen, wie nur wenige Menschen es dürfen in Nowitzkis speziellem Kosmos. In seinem Werk gelingt es Pletzinger zwischenzeitlich auch immer wieder mal, diese Nähe zu transportieren, etwa bei der Beschreibung von Dreharbeiten für Nowitzkis Werbepartner ING. Pletzinger durfte Nowitzki in seinem Haus in Dallas offenbar mehrfach besuchen und beschreibt das anschaulich. Wie die gemeinsamen Autofahrten zum Geschwindner-Training in Rattelsdorf. Der Autor setzt Holger Geschwindner aber auch auf ein Podest, lässt ihn Nietzsche zitieren. Geschwindners Steuervergehen, wegen der er in Untersuchungshaft saß, werden ohne Erklärung in ein paar Zeilen gestreift. Nowitzkis ihm sicher lehrreiche Beziehung zu einer Betrügerin, die ihn wochenlang auf den Boulevard und plötzlich von den Sport- auf die bunten Seiten auch der seriösen Medien hievte, sind Pletzinger nicht einmal zwei von 500 Seiten wert.
Pletzinger warnt bereits in seinem Prolog: "Es ist auch meine Geschichte. Die Geschichte von einem, der an diesem Spiel gescheitert ist und der trotzdem nicht aufgehört hat, Basketball zu lieben. (. . .) Dieses Buch ist keine Biografie, dieses Buch ist mein Versuch, aus Dirk Nowitzki schlau zu werden." Das sollte man wissen, bevor man mit der Lektüre beginnt. Sonst könnte man von "The Great Nowitzki" enttäuscht werden - wenn man zu viel Nowitzki erwartet.
In Frankfurt sagt Pletzinger, er habe seine "journalistische Unabhängigkeit aufgegeben". Das wird in fast jeder Zeile überdeutlich - auch wenn er sich in dem Buch mehrfach noch als Journalist bezeichnet. Der Autor, Jahrgang 1975, wuchs in der Basketballstadt Hagen auf, in Hamburg hat er Amerikanistik studiert und am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig, er arbeitete als Sportjournalist und schreibt auch Romane. Dass ein Schreiber, der versucht, in den Kosmos eines Prominenten einzudringen und diese Welt nicht nur zu verstehen, sondern auch verschriftlichend zu erklären, mitunter Gefahr läuft, die Objektivität zu verlieren und mehr Fan als Beschreiber zu werden, ist Pletzinger nicht vorzuwerfen. Manches andere aber schon.
Er behauptet: "In Basketballdeutschland weiß eigentlich jeder, wo er gewesen ist, als die Mavericks Meister wurden (ich: Magnet Bar in Berlin)." Durch die siebenstündige Zeitverschiebung darf man davon ausgehen: Bis auf die Hardcore-Nowitzki-und-Basketball-Freaks war auch die Mehrheit von Basketball-Deutschland damals im Mai 2011 im Bett.
Dass Pletzinger mal Sportjournalist war, merkt man zuweilen auch an seiner Sprache und den bisweilen arg humpelnden Vergleichen in ihr. Dass auf 500 Seiten auch dem akribischsten Lektor mal was durchrutscht - sei's drum, geschenkt. Aber in dem Buch explodieren häufiger Hallen oder, wenn eine gerade nicht explodiert ist, will sie gewinnen oder "flasht und verliert den Verstand" oder wird sogar zu einem Teufelskreis. Auch wenn die allermeisten Menschen wissen, was gemeint sein soll: Solche schiefen Bilder waren schon immer und werden auf ewig sprachlicher Unfug bleiben.
Seine eindringlichsten Schilderungen gelingen Pletzinger bei zwei Ereignissen (Qualifikation der Nationalmannschaft für Olympia in Peking, Gewinn des NBA-Titels), bei denen er nicht vor Ort war und sich die Situationen beschreiben ließ.
Was - der Ankündigung im Prolog zum Trotz - dennoch wirklich irritiert, vor allem in der Häufung: Wie Pletzinger sich immer wieder in den Mittelpunkt stellt: "Die Bilder gehen um die Basketballwelt, und wenn man ganz genau hinsieht, kann man mich erkennen, gleich links neben Geschwindner, blauer Kapuzenpullover, hellblaues Hemd, leicht verlegenes Grinsen und irrational stolz, in diesem Moment dabei gewesen zu sein." Es war Nowitzkis letztes Heimspiel.
Der Moderator erklärt die kurzweilige, knapp eineinhalbstündige Veranstaltung mit den zwischenzeitlichen Pletzinger-Vorträgen aus seinem Werk für beendet. Sie lebte vornehmlich von Nowitzkis (Wort-)Witz und Humor. Das Publikum erhebt sich erneut. Und klatscht noch ein bisschen länger als zu Beginn, als Dirk Nowitzki die Bühne betreten hat.