Als Carolin Lehrieder 20 war und noch Basketball spielte, hatte sie sich ihr Leben mit 30 so vorgestellt wie viele:"verheiratet, zwei Kinder, Haus und Hund". Heute ist sie 30 und lebt "das genaue Gegenteil davon", wie sie sagt. Und: "Ich genieße es!"
Carolin Lehrieder ist seit 2007 Triathletin, seit 2014 als Profi aktiv. Ausdauersportler sind in ihrem Alter oft am leistungsfähigsten. "Durch all die angesammelten Lebenskilometer fängt man jedes Jahr auf einem höheren Niveau an", erklärt die Würzburgerin, "dadurch wird man zwischen 30 und 40 nicht schlechter." Das kann Lehrieder aus eigener Erfahrung bestätigen. Sie war in diesem ersten Lebensjahr der neuen Dekade sogar so gut wie nie zuvor.
Als am 21. April ihr runder Geburtstag anstand, weilte sie fast 10 000 Kilometer entfernt der Heimat im kleinen Inselstaat Taiwan östlich von China: "Ich hab den 30. einfach ignoriert und mich auf den Saisonauftakt konzentriert", erzählt die Tochter des Triathleten Gerald Lehrieder. Der Start bei der Challenge Taiwan war zugleich der in ihre sechste Profisaison - und in ihre mit Abstand erfolgreichste.
Mit dem WM-Ticket für 2020 im Urlaub auf Hawaii
Rund ein halbes Jahr später nun sitzt die Unterfränkin entspannt bei einem Cappuccino in einem Café in ihrer Heimatstadt und weiß bereits, wo sie im Oktober 2020 sein wird: wieder dort, wo sie gerade herkommt. Auf Hawaii. Diesmal war sie zum Urlauben am anderen Ende der Welt – und um sich für den größten Erfolg ihrer Karriere zu belohnen: den Triumph beim Ironman Italy Emilia-Romagna am 21. September, der zugleich das Ticket für die Triathlon-Weltmeisterschaft 2020 bedeutete. Das nächste Mal wird sie dort also selbst an den Start gehen.
"Ich hab schon mal die Stimmung aufgesaugt", berichtet Lehrieder, die den deutschen Doppelsieg von Jan Frodeno und Anne Haug als Zuschauerin live in Kailua-Kona verfolgte. Der Mythos Hawaii, von dem Triathleten sprechen, hat auch sie in ihren Bann gezogen. "Das hat tatsächlich etwas Magisches." Das tropische Klima mit rund 30 Grad Hitze und hoher Luftfeuchtigkeit hat ihr allerdings auch Respekt eingeflößt: "Die Bedingungen sind zum Leiden. Das hatte ich ganz verdrängt."
2013 war Lehrieder schon mal dort gewesen. Durch ihren Sieg beim Ironman Germany in der Altersklasse 18 bis 24 hatte sie sich einen Startplatz bei der WM gesichert und war Dritte geworden. "Aber das war etwas ganz anderes als bei den Profis. Da dürfen nur rund 35 Triathletinnen aus der ganzen Welt teilnehmen. Für mich ist es eine Ehre, dabei sein zu dürfen." An diesem Oktobervormittag in Würzburg geht der Blick der Sportlerin nicht nur nach vorn, sondern auch noch einmal zurück. Zurück auf das vergangene halbe Jahr.
Fünfte in der Bestenliste der deutschen Ironman-Triathletinnen
Zwischen Platz zwei in Taiwan und Platz eins in Italien liegen exakt fünf Monate – und dazwischen ein Schlüsselerlebnis. Im April unterbot sie ihre Bestzeit über die Langdistanz – 3,8 Kilometer Schwimmen, 180 Kilometer Radfahren, 42,195 Kilometer Laufen – um gut zehn Minuten (9:13:16 Stunden). Im Juli knackte sie als Fünfte beim Klassiker in Roth zum ersten Mal die magische Neun-Stunden-Marke (8:55:13). Im September verbesserte sie sich mit ihrer Siegerzeit von 8:48:23 Stunden erneut und stellte einen Streckenrekord auf. Seither wird sie in der Bestenliste der deutschen Triathletinnen, die seit 1982 auf der Ironman-Distanz unter neun Stunden geblieben sind, auf Rang fünf geführt.
Wie ist die Leistungssteigerung zu erklären? Eigentlich ganz einfach: "Das Puzzle hat sich endlich zusammengesetzt", antwortet Lehrieder. Und: "Ich war mir in diesem Jahr meiner guten Form bewusst und habe aus den Trainingswerten Selbstvertrauen gezogen."
Seit einem Jahr arbeitet die für den SV Würzburg 05 startende Athletin mit einem neuen Trainer: Markus Fachbach ist zugleich ihr Kollege beim 2015 von Hotelier und Triathlet Jakob Schmidlechner gegründeten österreichischen Proteam Mohrenwirt. "Markus hat selbst 20 Jahre Profierfahrung. Er baut das Training strukturiert auf, setzt Reize zum richtigen Zeitpunkt und in der richtigen Intensität. Aber was mindestens genauso wichtig für mich ist: Wir haben eine freundschaftliche Basis, ich fühle mich bei ihm aufgehoben und verstanden. Markus verdanke ich sehr viel."
Durch Tiefs auf den Höhepunkt
Auch das restliche Team, zu dem sechs Profi- und vier Amateur-Athleten gehören, habe sie durch manche Zweifel hindurchgetragen, als sie immer mal wieder ans Aufhören dachte. "Aber ich wollte nicht abtreten ohne wenigstens ein Super-Ergebnis wie in Italien." Der erste Ironman-Sieg ihrer Karriere war zugleich auch der erste für ihr Team.
Vermutlich hätte Carolin Lehrieder diesen Höhepunkt ohne die Tiefs der vergangenen Jahre nicht erreicht. Ohne das Pech, die Pleiten und Pannen. Ohne die Stürze, Verletzungen und Materialschäden. Das Team und ihr Trainer glaubten trotzdem an sie. "Sie haben mir Zeit gegeben, ohne mich unter Druck zu setzten, dass ich endlich mal liefern muss." Und nach den guten Werten in der Vorbereitung glaubte die 30-Jährige, die an sieben Tagen je nach Jahreszeit insgesamt 20 bis 35 Stunden pro Woche trainiert, endlich auch an sich selbst.
Schlüsselerlebnis beim Klassiker in Roth
Die erste Herausfoderung wartete gleich in Taiwan - und diese meisterte sie mental stärker als früher. Trotz defekter Gangschaltung am Rad "hab ich mich nicht in den Graben gesetzt und aufgegeben. Ich bin weitergefahren und hab mich durchgekämpft. Ich wollte nicht umsonst um die halbe Welt geflogen sein."
Nach mehreren Mitteldistanzrennen platzte der Knoten in Roth dann endgültig. "Da hab ich mich zum ersten Mal einem starken internationalen Feld gestellt." Die Würzburgerin merkte nicht nur selbst plötzlich, "dass ich mit der Weltspitze mithalten kann" – auch die Konkurrenz nahm erstmals richtig Notiz von ihr: "Anne Haug kannte mich vorher noch nicht, aber lobte mich nach dem Rennen sehr." Mit ihrem trockenen Humor fügt Lehrieder hinzu: "Na ja, nach zwei so Rennen kennen die mich jetzt wohl."
Auf der Suche nach Sponsoren
Die Qualifikation für Hawaii 2020 gibt ihr auch planerische Sicherheit. Denn das Leben als Leistungssportlerin ist im Triathlon nicht eben lukrativ. "Geld verdienen kann man nur auf der Langdistanz, und da reicht die Kraft bloß für zwei bis drei Rennen im Jahr." Für ihren Sieg in Italien bekam Lehrieder 8000 Euro Preisgeld - davon muss sie ihren Trainer, die Reise und Steuern bezahlen. Die Kosten für Material und Ernährung übernimmt das Team. Doch um über die Runden zu kommen, arbeitet die studierte Mathematiklehrerin nebenbei in einem Würzburger Laden für Laufschuhe. "Ich suche immer noch ein paar regionale Sponsoren", sagt sie und gesteht: "Die Akquise fällt mir wesentlich schwerer als das Training. Dazu muss ich mich selten zwingen."
Jetzt, nach drei freien Wochen mit Urlaub und der kurzen Auszeit Leben, die viele andere Frauen in ihrem Alter Alltag nennen – mit "Freundinnen treffen, Essen gehen, Kuchen futtern und Wein trinken" – kribbelt es in der Triathletin wieder. Diese Woche startet sie mit der Vorbereitung auf die neue Saison, die in einem Jahr möglichst mit einem Top-Ten-Platz in Kona enden soll. "Dafür gibt's Preisgeld." 120 000 US-Dollar für die Siegerin, immerhin noch 10 000 für die Zehnte. Die Magie von Hawaii soll sie als Motivation durch die nächsten Monate tragen.
Wie sich Carolin Lehrieder heute ihr Leben mit 40 vorstellt? "Da mache ich das, was ich früher mal mit 30 vorhatte, auf jeden Fall keinen Leistungssport mehr", meint sie und lacht: "Dann renne ich nur noch mit dem Babyjogger am Main entlang."