Der aus Kleinbardorf im Landkreis Rhön-Grabfeld stammende Christoph Schüller ist Spielführer der Tischtennis-Regionalliga-Mannschaft des TSV Bad Königshofen II. Er lebt und arbeitet in Wien und ist an gewöhnlichen Wochenenden in Sachen Tischtennis unterwegs: in Bayern, Thüringen und Sachsen.
Am vergangenen Sonntag beim Tabellenführer TSV Windsbach musste sein Team allerdings ohne den 29-Jährigen antreten. Den Grund kannte zunächst kaum jemand: Schüller hatte ganz andere Sorgen und holte seine Frau Vladyslava (27), die aus dem ukrainischen Kriegsgebiet geflohen war, zurück nach Wien.
Ein Tag vor dem Rückflug nach Wien bricht der Krieg aus
Kennengelernt haben sich die beiden während ihres Studiums in Prag. Christoph Schüller ist Investment-Analyst, seine Frau Vlada Finanz-Analystin. Verheiratet sind sie seit Mai 2020, im März 2020 waren sie nach Wien umgesiedelt. Am Montag vergangener Woche flog Vlada Schüller in die Ukraine, um ihre Familie zu besuchen. "Noch einmal", fügt sie hinzu in Befürchtung dessen, was wenig später tatsächlich eintreffen sollte - der militärische Überfall Russlands auf die Ukraine.
Geplant war ihr Rückflug für Freitag vergangener Woche. Doch bereits ein Tag zuvor brach in der Ukraine der Krieg aus. "Da fand der Angriff der Soldaten aus dem anderen Land statt", sagt Vlada Schüller, wobei sie bewusst diese Formulierung wählt. Ihre Betroffenheit weist wenige Tage nach ihrer Rückkehr nach Wien traumatische Zustände auf.
Vlada Schüllers Heimatstadt ist früh unter Beschuss
"Ich bin am Donnerstag früh aufgewacht, dann ging es los", erinnert sich Christoph Schüller. Auch er, der Besonnene, Strukturierte, spricht auf einmal mit ganz anderem Tempo und Lautstärke als sonst. Vlada Schüllers Heimatstadt Krywji Rogh hat einen Militär-Flughafen und stand daher frühzeitig unter Beschuss.
Per Handy blieb das Ehepaar über die gefährliche Entwicklung in Kontakt. "Ich habe ihr sofort geraten, raus, sofort raus, irgendwie ins Auto und los. Aber Vlada hat einen kühleren Kopf behalten als ich", sagt Christoph Schüller.
Die Strecke aus der Südost-Ukraine zwischen der Krim und dem Donbas bis nach Polen, rund 1200 Kilometer, sei zu weit. Zudem wurde von endlosen Staus berichtet, sodass mit drei Tagen Fahrtzeit zu rechnen gewesen sei. "Und es gibt Plünderer, die die Autos im Stau überfallen und ausrauben, weil die Leute viel Bargeld mitnehmen", ergänzt Vlada Schüller. "Die Leute haben doch Hab und Gut mitgenommen."
Zusammen mit der Mutter und einer jungen Frau mit Baby auf der Flucht
Vlada Schüller kam glücklicherweise an Tickets für einen der Evakuierungszüge nach Lwiw, nahe der polnischen Grenze. Ihre Mutter konnte sie überreden, mitzugehen. Die beiden nahmen auch noch eine junge Frau mit einem Baby mit. "Es war wie göttliche Fügung. So konnten wir gleich zu viert gerettet werden. Alleine hätte es wohl keiner von uns gewagt." Ihr Vater (58) durfte und wollte nicht mit. Er blieb bei Vladas gehbehinderten Großeltern und muss sich beim Militär melden.
"Oberste Prämisse war es, Richtung Westen zu kommen, raus aus der Gefahrenzone und nicht durch Kiew", erklärt Vlada Schüller. Sie entschied sich auch deshalb für die Bahn, weil die nicht vor der Grenze, sondern erst in Polen halten sollte. Neu planen mussten sie und ihre Begleiterinnen, als es hieß, die Züge fahren nur bis Lwiw und dann wieder zurück, um noch mehr Leute herausholen zu können.
"Zu dem Zeitpunkt war ich schon in Polen", sagt Christoph Schüller. "Los gefahren bin ich am Samstagmorgen um fünf Uhr." Unterwegs erfuhr er von seiner Frau, dass man sich nicht am vereinbarten Bahnhof in Polen würde treffen können. Vlada Schüller schmiedete währenddessen schon neue Pläne, wie sie die Gruppe aus der Ukraine bringen könnte. Wieder hatte sie Glück und kam an Tickets für einen Bus. "Aber überall entstand Panik, die Leute drehten durch. Es waren auch viele Männer dabei, ausländische Studenten und Arbeiter. Alle mussten erst kontrolliert werden, keiner kam ohne Ausweis durch."
Die Verzögerung zwang ihren Mann, 200 Kilometer ins Landesinnere Polens zu fahren. Der Grund: Bis dahin waren alle Hotels ausgebucht von Leuten, die ihre Bekannten abholen wollten. "Nachts stellte ich mein Handy auf Alarm, um keinen Anruf zu verpassen. Ich wusste ja nicht, wann Vlada rüber kommen würde."
Acht Stunden zu Fuß bei eisiger Kälte bis zur polnischen Grenze
Vlada Schüller erzählt, wie es für ihre Gruppe weiterging: "Mit dem Bus ging es sehr, sehr langsam vorwärts. Vor uns waren etwa 70 Busse. Pro Tag wurden aber nur 20 durch gelassen, weil jede Person kontrolliert wurde." Deshalb entschlossen sie sich auszusteigen, da man zu Fuß schneller vorwärts kam als mit dem Bus.
"Es war alles sehr chaotisch", berichtet Christoph Schüller von seiner Suche nach dem Sammelpunkt hinter der Grenze auf polnischer Seite. "Es gab keinerlei Hinweisschilder, kein Polizist sprach Englisch. Deshalb fuhr ich einfach Richtung Grenze, um mich anhalten zu lassen. So erfuhr ich per Zeichensprache und Google Maps, wo der Sammelpunkt zu finden war." Bis zu dem Vlada Schüller mit ihrer Fußgruppe, bei Schnee- und Graupelschauern und eisiger Kälte, acht Stunden brauchte.
"Es gab viele Kinder, die weinten und wieder nach Hause wollten", erzählt die 27-Jährige. Am Sonntagabend um 21 Uhr kam es dann zum Zusammentreffen, zu einer langen Umarmung und der bedeutendsten Szene ihres bisherigen Ehelebens. An der Stelle stockt das Gespräch für einige Momente. "Wir sind danach für ein paar Stunden Schlaf ins Hotel nach Krakau gefahren. Am frühen Montagmorgen sind wir aufgebrochen, quer durch Polen und Tschechien bis herüber nach Wien."
Vlada und Christoph Schüller bitten um Hilfe für die Menschen in der Ukraine
Beim Erzählen dieser Fluchtgeschichte waren die beiden noch weit von der Normalität entfernt, von Abschalten keine Spur. Vlada Schüller berichtet noch ganz aufgewühlt von mehreren Freunden in der Ukraine, die beide kennengelernt haben. "Die haben sich freiwillig gemeldet, werden in den Krieg ziehen, unser Land verteidigen helfen. Noch hat man genug ausgebildete Soldaten. Deshalb stehen sie erst als Reserve bereit."
Christoph Schüller erzählt betroffen von den Geschehnissen in der Ukraine: "Ich kann sagen, was man bei uns im Fernsehen sieht, ist noch harmlos. Die Realität ist zehnmal schlimmer. Der Krieg ist richtig schmutzig geworden, wenn man sieht, wie unschuldige Zivilisten darunter zu leiden haben."
Eine Sache ist Vlada und Christoph Schüller noch besonders wichtig: "Wir möchten die Leute bitten, dass sie Hilfe leisten. Denn jede Form der Hilfe, auch wenn sie als noch so klein erachtet wird, ist ein Schritt, den Menschen zu helfen und ihr Leid zu mildern."