Im September vergangenen Jahres war die Welt für den Schachclub Bad Königshofen 1957, von Corona-Einschränkungen und einer damit verbundenen langen Spielpause einmal abgesehen, noch in Ordnung: Das Frauenteam verteidigte seinen Titel aus der Vorsaison und wurde zum dritten Mal Deutscher Meister. Klar, dass der Erfolg groß gefeiert wurde. Nach der Rückkehr vom Auswärts-Spielort in Bad Königshofen wurde die erfolgreichen Schach-Damen auf dem Marktplatz empfangen. "Ein Traum wurde wahr" – dieser Ausspruch war vor einem halben Jahr nicht nur von den Spielerinnen, sondern auch vom langjährigen Schachclub-Vorsitzenden Jürgen Müller zu vernehmen.
Entsetzen über den Einmarsch
Wenige Wochen vor den ersten Spielen in der neuen Saison, in der die Damen des Schachclubs ihren Titel verteidigen wollen, hat sich die weltpolitische Lage von einem Tag auf den anderen schlagartig geändert. Der russische Angriff auf die Ukraine bereitet vielen Menschen große Sorge – auch Jürgen Müller, der die Lage mit besonders großem Interesse beobachtet. Denn neben mehreren deutschen Schachspielerinnen zählen auch etliche Russinnen und zwei Ukrainerinnen zum Kader der Bad Königshöfer Frauenbundesliga-Mannschaft. "Es ist unbegreiflich, was da in der Ukraine gerade passiert", versucht Jürgen Müller sein Entsetzen über den russischen Einmarsch in Worte zu fassen.
Sofort Kontakt aufgenommen
Er habe nach dem Beginn des Angriffs auf die Ukraine sofort versucht, Kontakt mit den beiden ukrainischen Spielerinnen Julia Osmak und Olga Babiy aufzunehmen, was auch gelungen sei. "Julia Osmak spielt gerade in Norwegen ein Turnier und ist in Sicherheit," so Müller. "Olga Babiy war am vergangenen Samstag zusammen mit ihrer Schwägerin und deren Kind, einem 13-jährigen Mädchen, gerade dabei, das Land zu verlassen." Was er als sehr bedrückend empfand. Die junge Schachspielerin, die aus Ternopil im Westen der Ukraine stammt, und ihre Begleiterinnen mussten ihre Ehepartner beziehungsweise den Vater zurücklassen. Grund: Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen die Ukraine nicht mehr verlassen. Sie sind stattdessen aufgefordert, bei der Landesverteidigung zu helfen.
Spielerin und Verwandte in Breslau abgeholt
Der Schachclub-Vorsitzende machte sich sofort Gedanken darüber, wie er den beiden ukrainischen Schachspielerinnen helfen könnte, nachdem sie in absehbarer Zeit wohl nicht mehr nach Hause zurückkehren können.
In der Nacht von Montag auf Dienstag hat er dann Nägel mit Köpfen gemacht. "Ich habe Olga Babiy und ihre Verwandten in Breslau abgeholt und in meinem Haus in Kleinbardorf einquartiert", so Müller. Rund zehn Stunden habe die Hin- und Rückfahrt gedauert. Nach all den Strapazen müssten sie sich nun erst einmal ein paar Tage ausruhen."
Dass er einen Großteil der russischen Schachspielerinnen, die im Kader des Bad Königshöfer Schachclubs sind, so schnell wieder zu Gesicht bekommen wird, schließt Jürgen Müller dagegen aus. "Die meisten leben in Moskau oder St. Petersburg und werden das Land vorerst nicht verlassen können."
Dennoch hofft er, beim ersten Saisonspiel in der Frauenbundesliga, die Ende März in Bad Königshofen anstehen, mit einer kompletten, aus sechs Spielerinnen bestehenden Mannschaft antreten zu können. Ob das klappt, hängt auch davon ab, ob die zwei außerhalb ihres Landes lebenden Russinnen überhaupt antreten dürfen und die ukrainischen Schachdamen in der Lage sein werden, konzentriert Schach zu spielen. "Im Moment können wir noch nicht sagen, unter welchen Voraussetzungen wir in die neue Saison starten können."