
Viel zu viele, viel zu aggressive Straßenhunde. Etwa 300.000 Kilokalorien, 15.000 Höhenmeter, 3909 Kilometer. 66 Jahre, 60 Tage, acht US-Bundesstaaten, vier Paar Laufschuhe, drei Zeitzonen. Zwei Begleiter, ein alle Qualen übertönendes Gefühl: Freiheit. Wer versucht, sich dem zu nähern, was Hubert Karl in den vergangenen zwei Monaten geleistet hat, kommt nicht ohne dieses Zahlen-Schlachtfest aus. Und umreißt damit nur grob, welch für die Augen Normalsterblicher irres Unterfangen der Ultraläufer aus Zeil am Main (Lkr. Haßberge) erfolgreich hinter sich gebracht hat.
Der Diplom-Lauftherapeut, Ernährungsberater, Personal Trainer und Autor hat sich etwas erfüllt, auf das er über Jahrzehnte hingearbeitet hat. Das Vorhaben: Mit 66 Jahren die gesamte Strecke der Route 66, von Chicago, Illinois, bis Santa Monica, Kalifornien, in 66 Tagen zu laufen. 3909 Kilometer. Am 25. Mai hat er dieses Abenteuer beendet. Erfolgreich, und sogar noch besser als angepeilt. Nach nur 60 Tagen stand Karl barfuß unweit des Santa Monica Piers wadentief im Pazifik.
Zurück in Unterfranken, trägt der Ausnahmesportler Schuhe, als er die Tür seines Hauses in der Zeiler Altstadt öffnet und nach einem festen Händedruck durch den Garten hindurch in seine Werkstatt bittet. Laufschuhe, versteht sich. Er habe ja nicht genau gewusst, was ihn erwarten würde bei diesem Pressetermin, daher die Laufmontur. Erzählen reicht. Also lässt sich Karl gegenüber der mit Trophäen, Medaillen, Bildern und sonstigen Erinnerungsschnipseln aus seinem Läufer-Leben gespickten Hallenwand in einem Gartensessel nieder.

"Ich habe gewusst, dass ich an viele Grenzen kommen werde", beginnt Karl die Einordnung dieses Etappenlaufs, der aller zurückliegenden Erfolge zum Trotz Neuland gewesen war für den Zeiler. 25 Mal hat Karl den 246 Kilometer langen Spartathlon erfolgreich beendet, so oft wie niemand sonst auf dieser Welt. Den 217,26 Kilometer langen Badwater Ultramarathon bei sengender Hitze durchs Death Valley. Den über 250 Kilometer langen Kirschblütenlauf in Japan. Als einziger Mensch diese drei Läufe in je unter 30 Stunden. Alles Geschichte, alles erledigt. Für die Route 66 brauchte es keine eintägige Powerleistung. Es brauchte im Schnitt 60 Kilometer pro Tag, 66 Tage in Folge, um die Strecke zu bewältigen. "Mir war klar, dass das eine Woche lang gut gehen wird. Aber dann kommt mit Sicherheit etwas", sagt Karl.
Er behielt Recht. Einige hundert Kilometer hatte er auf dem Asphalt der Route 66 abgespult, Illinois bereits im Rückspiegel. In Missouri motzten zuerst die Knie, dann machte sich ein Ziehen im rechten Oberschenkel bemerkbar. Die Stelle schwoll an, bereitete Karl ernsthafte Probleme. Ein Riss in der Muskulatur hätte ihn tagelang außer Gefecht gesetzt. "Da war so eine Spannung drauf, ich konnte mein Knie nicht mehr anheben", erzählt Karl. "Das war die Überlastung. So ein Projekt war eine neue Dimension für meinen Körper."
Hubert Karl geht zwölf Stunden am Stück
Im Wohnmobil wollte er trotzdem nicht bleiben. Das Gefährt steuerten sein Bruder Edgar und seine Frau Christine, die den Läufer im Zehn-Kilometer-Rhythmus versorgten. Nachts war es die Unterkunft des Trios. Anderthalb Tagesetappen lang ging Karl, teils zwölf Stunden am Tag, um in Sachen geforderte Tageskilometer nicht zurückzufallen. Ein Härtetest für Oberschenkel und Psyche. Doch Karl hielt stand, lief die Schwellung raus und war kilometertechnisch voll im Soll. "Nach zwei, drei Tagen habe ich die Probleme nicht mehr gespürt. Und dann war Ruhe", sagt Karl, der da schon acht Kilo abgenommen hatte und gar nicht so viel essen konnte, wie sein Körper verbrauchte.
Just in diesem Moment der Erzählung kommt Karls Frau Christine durch die Werkstatt gelaufen. "Es waren zwei Monate Leben im Hier und Jetzt. Das war schon aufregend", kommentiert sie, am Vorbeihuschen gehindert und auf die Reise angesprochen, das USA-Abenteuer. Ob sie, als ihren acht Kilo leichteren Mann die Schmerzen plagten, kurz davor war, das Handtuch in den Ring zu werfen? "Nein. Wir waren zwar wirklich besorgt und hatten Bedenken, ob er es schafft. Aber er wollte es ja so, es hat ihn keiner gezwungen", sagt sie und lächelt.
Die zwei Seiten der Vereinigten Staaten
Für ihren Mann lief es mit den überstandenen Oberschenkelproblemen wieder rund. "Ab Kilometer 900 bin ich gelaufen bis Kilometer 3300. Ohne Probleme. Das war traumhaft. Das war genial", sagt Karl. Und er beginnt zu erzählen von malerischen Pässen, von atemberaubenden Wüstenetappen, von der Schönheit der Landschaft Amerikas, die kein Reiseführer so vermitteln könne. Von Geisterstädten entlang der Route 66, von Indianerreservaten in Arizona, von netten Begegnungen mit freundlichen Menschen, die wirklich so freundlich seien, wie man es den US-Amerikanern eben immer nachsagt.
Er lernte aber auch die andere, die hässliche Seite der Vereinigten Staaten kennen. Was nur folgerichtig war. Karl war unmittelbar, ohne schützendes Blech um ihn herum, unterwegs auf der ebenso ikonischen wie in Teilen kaum mehr genutzten Route 66, die irgendwie auch sinnbildlich für Veränderung und Verfall der USA steht. Auf der legendären Fernstraße hatte der Zeiler es nicht nur mit vorbei donnernden Trucks oder aggressiven Hunden zu tun. Vor den bissigen Vierbeinern, erzählt er, musste er sich einmal gar in den Fond eines zum Anhalten gezwungenen Autos retten, um den Hundebissen zu entgehen.
Er lief auch vorbei an unzähligen obdachlosen und offensichtlich drogenabhängigen Menschen, die all ihr Hab und Gut in einem Einkaufswagen vor sich herschoben und sich vor allem unter Highway-Brücken aufhielten. Probleme gab es keine. "Die waren ja völlig benebelt", sagt Karl. "Außerdem war bei mir nichts zu holen, außer Wasser und Snacks." Und schnell wieder vorbei war er ja obendrein.

Wäre Hubert Karl nicht Hubert Karl, würde die Erzählung vom Lauf-Abenteuer auf der Route 66 nun so langsam enden. Mit den letzten Etappen durch den Großstadtdschungel von Los Angeles, mit dem Einlaufen auf dem Santa Monica Pier sechs Tage früher als geplant, mit dem Wiedersehen von Familie und Freunden, die ihren Dauerläufer am Strand in Empfang nahmen. Mit der überwältigenden Dankbarkeit, die er verspürte, seine Mission geschafft zu haben. Weil Hubert Karl aber Hubert Karl ist, fehlt noch ein Teil der Geschichte. Und die hat auch mit irren Zahlen zu tun.
Hubert Karl ganz nebenbei zum Star auf Instagram und TikTok
"Mein Name ist Karl, Hubert Karl." Im immer selben James-Bond-Sprech beginnen die mit dem Smartphone aufgezeichneten Videos, mit denen Karl online von seinem Abenteuer berichtet. Beim Laufen erzählt er tagtäglich in die Kamera, wohin ihn sein Weg an diesem Tag führt, wie die Bedingungen sind. In anderen Videos erklärt er am Tisch des Campers, wie seine Ernährung an einem typischen Etappentag aussieht. Mal, wer ihn da überhaupt begleitet und wie die Versorgung funktioniert. Die Videos begeistern auf den Plattformen Instagram und TikTok die Nutzerinnen und Nutzer.
Auf Instagram hat Karl plötzlich 90.000 Follower, vor der Reise waren es 900. Auf seinem neu gestarteten TikTok-Kanal sind es 53.200. Wem diese Zahlen nichts sagen, das waren die Folgen: Deutschsprachige Menschen, die zur selben Zeit in den USA unterwegs waren und Hubert Karl vorher überhaupt nicht kannten, sahen die Videos und versuchten, ihn ausfindig zu machen. Mit Erfolg. Dank der Videos spürten Karl Reisegruppen aus München, Radfahrer aus der Schweiz und letztlich auch ein Motorradfahrer aus Berlin auf, der seine Frau Christine auf dessen Harley auch einen Teil über die Route 66 mitnahm.
Der zurückhaltende, alles andere als egozentrische Hubert Karl als Social-Media-Star, als Influencer? Es überrascht nicht, dass diese Idee nicht vom Läufer selbst kam. Julian Kopf, Fußballer beim FC Zeil und beruflich Sport-Ökonom, schrieb Karl an und schlug vor, seinem Vorhaben eine würdige Internetpräsenz zu geben. "Ich wusste ja gar nicht, was TikTok ist", sagt Karl, der sich trotzdem darauf einließ, ohne den 23-Jährigen überhaupt persönlich zu kennen. Und, obwohl er sagt: "Eigentlich hasse ich Selfies." Seine Meinung dazu hat er inzwischen auch angesichts des Erfolgs geändert. Es ist eine von etlichen Erkenntnissen, die Karl gesammelt hat, auf den endlosen Weiten der Route 66.