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Mellrichstadt
Wie DDR-Grenzer Bernd Stucke die Wende erlebte
23 Jahre hat er die DDR-Grenze bewacht, dann änderte sich von einem Tag auf den anderen sein Leben. Heute ist Stucke froh, dass er nie zur Waffe greifen musste.
Ab 1967 war Bernd Stucke (rechts) im Grenzschutz der DDR tätig. Dazu war der Oberfähnrich der SED für den Gemeinderat von Mendhausen vorgeschlagen worden und wurde Vorsitzender des Ortsausschusses der Nationalen Front.
Foto: Helmut Schaar, Bundesarchiv | Ab 1967 war Bernd Stucke (rechts) im Grenzschutz der DDR tätig. Dazu war der Oberfähnrich der SED für den Gemeinderat von Mendhausen vorgeschlagen worden und wurde Vorsitzender des Ortsausschusses der Nationalen Front.
Georg Stock
 |  aktualisiert: 08.02.2024 13:52 Uhr

Leben in zwei Welten – sind das zwei unterschiedliche Leben oder ist es ein Leben mit Unterschieden? Im Fall von Bernd Stucke, Jahrgang 1947, ist es ein Leben. Sein Leben, das der heute 72-Jährige von 1947 bis 1990 in der DDR verbracht und schließlich nach 1990 im vereinigten Deutschland völlig umgekrempelt hat. Die Unterschiede beider Systeme gehören zu seiner Vita. Vergleiche darüber kommen aber nicht über seine Lippen, sie sind ihm zuwider. Er hält mit seinem Bekenntnis nicht hinterm Berg: "Mir ging es zu DDR-Zeiten gut, und mir geht es auch heute gut. Sehr gut."

Bernd Stucke redet nicht drum herum, was seine Vergangenheit angeht. So macht er keinen Hehl daraus, dass er und seine Frau Gisela in der Partei, der SED, waren. Schließlich hatte das politische System bestimmenden Einfluss auf das Leben jedes einzelnen. "Du bist dort groß geworden, hast an deinen Staat und den Sozialismus geglaubt." Freilich war man gewohnt, dass die SED überall im Alltagsleben ihre Finger im Spiel hatte. Dennoch hatte die DDR für viele Menschen nichts Schlimmes. Auch nicht für das Ehepaar Stucke und die zwei Söhne.

In 40 Jahren DDR lautete die Parole stets: Der Sozialismus wird siegen! Doch mit einem Mal war diese Parole nur noch Schall und Rauch. Als SED-Mann Günter Schabowski sich den Versprecher leistete, "sofort und unverzüglich" treten die neuen Bestimmungen zur Reisefreiheit für DDR-Bürger in Kraft. "Wir waren geschockt und konnten es erst gar nicht glauben", sagt Bernd Stucke und schüttelt noch heute den Kopf, wenn er an die Nachricht denkt, die am Abend des 9. November 1989 um die Welt ging. Schon zu diesem Zeitpunkt ist es dem Ehepaar, das gerade erst in das neu gebaute Haus in Mendhausen (Ortsteil der Stadt Römhild im südthüringischen Landkreis Hildburghausen) eingezogen war, gedämmert: "Das war's dann wohl mit der DDR."

Der ehemalige DDR-Grenzer Bernd Stucke aus Mellrichstadt vor dem Prinzregent-Luitpold-Brunnen in Mellrichstadt. Er sagt: 'Mir ging es damals gut, mir geht es heute gut.'
Foto: Georg Stock | Der ehemalige DDR-Grenzer Bernd Stucke aus Mellrichstadt vor dem Prinzregent-Luitpold-Brunnen in Mellrichstadt. Er sagt: "Mir ging es damals gut, mir geht es heute gut."

Seit 1985 hatte die Familie Stucke an ihrem Haus gebaut. Mit dem Einzug 1989 freute man sich täglich über das eigene Zuhause. Dort blieb man unter sich, war ungestört. Bernd Stucke und seine Frau hatten schon ein, zwei Jahre zuvor immer mehr das Gefühl, die Zeiten im Arbeiter- und Bauernstaat werden unsicherer. "Es grummelte schon länger, halt nur insgeheim." An dieser Lage änderten auch die Jubelfeiern mit Aufmärschen und großen Reden zum 40-jährigen Bestehen der DDR im Herbst 1989 nichts. Ob außer Erich Honecker noch weitere SED-Betonköpfe an den Spruch "Den Sozialismus in seinem Lauf, halten weder Ochs noch Esel auf" glaubten? Letztendlich haben dazu ja Kerzen und Gebete genügt.

Zu dieser Zeit hatte sich die Welt im Arbeiter- und Bauernstaat jeden Tag verändert – Friedensgebete, die Massenflucht von DDR-Bürgern über Ungarn und die Prager Botschaft sowie die Großdemonstrationen in Leipzig, Dresden und Berlin haben die Macht der SED zerbröseln lassen. Die Revolution ohne Gewalt hat die Berliner Mauer zum Einsturz gebracht und mit der Öffnung der Grenzübergänge im Lande die Wende erst möglich gemacht.

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23 Jahre lang hatte Bernd Stucke als Grenzaufklärer an, vor und hinter der innerdeutschen Grenze seine dienstlichen Pflichten erfüllt. Im Rang eines Stabsoberfähnrichs war er zur Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit verpflichtet. "Was aber nicht heißt, dass ich Stasi-Mitarbeiter war", sagt der 72-Jährige mit fester Stimme. "Jeder, der in der DDR lebte, wusste doch, wie das funktionierte."

Wer nun glaubt, dass die Jahre im Grenzdienst den Menschen abstumpfen, "der ist auf dem Holzweg", sagt Bernd Stucke unverblümt. Als Grenzaufklärer habe er nie gewusst, was bei den Kontrollgängen quasi "hinter der Linie" auf ihn zukommt. Das habe ihn schon belastet, "und ich bin heilfroh, dass ich nie zur Waffe greifen musste, um zu schießen". Den Schießbefehl an der Grenze gab es, und die Firma Horch und Guck, die Stasi also, war überall dabei.

Im Dienst waren die Grenzsoldaten immer zu zweit – acht Stunden am Tag oder in der Nacht. Das strengte nicht nur körperlich an, "auch psychisch war der Grenzdienst nicht einfach", erklärte Stucke. "Schließlich war der persönliche Zwiespalt immer da." Und auf die Frage, ob er im Fall der Fälle geschossen hätte, antwortete er mit der Gegenfrage: "Was hättest du denn an meiner Stelle getan?" Betretenes Schweigen statt leerer Worte.

Wie DDR-Grenzer Bernd Stucke die Wende erlebte

Die deutsch-deutsche Grenze ist knapp 1400 Kilometer lang. Während in Berlin die Mauer beide Teile der Stadt trennten, war die Grenze sonst aufgebaut wie auf dieser Infografik zu sehen.

Aufgewachsen in Altenburg bei Leipzig hatte Bernd Stucke dort acht Klassen der polytechnischen Oberschule absolviert und sich als Jugendlicher den Jungen Pionieren und der FDJ angeschlossen. Nach einer Maurerlehre wurde er zur Nationalen Volksarmee eingezogen, wo er sich dann als Berufssoldat für die Armee entschied. Jahrelang bildete er als Zugführer junge Wehrpflichtige aus, ehe er zu den Grenzaufklärern wechselte.

Nach der Grenzöffnung hat die "persönliche Wende" beim Ehepaar Stucke nicht lange auf sich warten lassen. Als nämlich mit dem Mauerfall immer mehr ans Licht kam, wie, wo und in welchem Protz die SED-Bonzen lebten, befahl Gisela ihrem Gatten: "Du ziehst jetzt den Rock aus!" Mit dem Abgang von der Truppe – die Grenztruppe hat sich quasi aufgelöst, denn eine Grenzsicherung brauchte es nicht mehr – kam für Bernd Stucke das Tragen der Uniform nicht mehr in Frage. Für Gisela übrigens auch nicht der Besitz des Parteibuchs, das sie recht schnell los geworden ist.

Grenzaufklärer – ihre Stellung und ihre Aufgaben
Angehörige dieser Spezialtruppe der Nationalen Volksarmee durften sich ungehindert hinter dem Todesstreifen zur innerdeutschen Grenze hin bewegen, um westdeutsches Gebiet auszukundschaften. Für diesen Spezialjob wurden nur linientreue Freiwillige nach strengen Sicherheitskontrollen angenommen. Grenzaufklärer hatten besondere Vorrechte: Neben Spezialausbildung und -ausrüstung durften sie statt in den Kasernen bei ihren Familien im Grenzgebiet wohnen.

Der Versuchung, in den goldenen Westen zu fahren und all das Neue zu entdecken, hielt das Ehepaar Stucke lange stand. Erst im April 1990 stiegen Bernd und Gisela in den Bus, der sie von Meiningen nach Mellrichstadt brachte. Die Eindrücke dieses Tages verfehlten ihre Wirkung nicht."Wir brauchten eine ganze Zeit, um die Fülle der Angebote und Waren zu verarbeiten."

Am Grenzturm der ehemaligen innerdeutschen Grenze zwischen BRD und DDR bei Eußenhausen nagt der Zahn der Zeit.
Foto: Johannes Kiefer | Am Grenzturm der ehemaligen innerdeutschen Grenze zwischen BRD und DDR bei Eußenhausen nagt der Zahn der Zeit.

Im Zuge der Veränderungen, politisch wie auch familiär, musste sich die Familie neu orientieren. Dass dabei der Kopf voller Zweifel und Fragen war, war an der Tagesordnung. Wie geht unser Leben weiter? Was wird mit der Arbeit? Denn auch Gisela, die in einer Apotheke angestellt war, hatte ihren Job verloren. Was wird aus unseren Kindern? Der ältere Sohn hatte eine Lehre begonnen, der jüngere gerade das Abi in der Tasche. "Das hat uns nächtelang den Schlaf geraubt", erinnert sich der Familienvater an Zeiten, "die uns ganz schön genervt haben".

Doch es gab auch die freudigen Momente. Aus Feinden wurden Freunde. Was sich so klischeehaft anhört, das hat Bernd Stucke selbst erlebt. Im Verlauf von beiderseitigen Verhandlungen über weitere kleine Grenzöffnungen – das waren manchmal nur Durchlässe durch den Grenzzaun oder das Beseitigen von Wegsperren – freundete sich Stucke mit einem Zollbeamten aus dem Westen an. Diese Freundschaft brachte ihm Glück und die richtigen Kontakte für seinen beruflichen Neubeginn noch vor der Wiedervereinigung. Der Weg führte ihn schließlich zu Preh nach Bad Neustadt. Sein Arbeitsplatz in dem Unternehmen war die Kunststoffspitzerei – immerhin 20 Jahre lang.

Bernd Stucke als Tennisspieler des TC Rot-Weiß Mellrichstadt.
Foto: Günter Madrenas | Bernd Stucke als Tennisspieler des TC Rot-Weiß Mellrichstadt.

Und da traf es sich auch gut, dass zwischen Schichtführer Raimund Pinzel und dem neuen Preh-Mitarbeiter von Anfang an die Chemie stimmte. Nicht zuletzt dank der Leidenschaft zum Beispiel für das Tennisspiel. Da Pinzel viele Jahre als Platzwart beim Tennisclub Rot-Weiß Mellrichstadt fungierte, lag es doch nahe, Bernd Stucke zum Club zu lotsen. Mit Erfolg, denn bei den Medenspielen in den verschiedenen Altersklassen war der Mann aus Thüringen stets eifriger Punktesammler für das Team des TC Rot-Weiß.

Was Bernd Stucke spielerisch auf dem roten Sand gelang, das setzte sich für das Ehepaar auch im Kreis der Tennisfreunde fort mit vielen fröhlichen Stunden in geselliger Runde. Das Leben von Bernd und der Familie war jedenfalls geordnet und dennoch mit allen Freiheiten ausgestattet. "Es ist gut so, wie es gekommen ist", sagt er nur, nickt und lächelt dazu. Es klingt irgendwie befreiend.

Georg Stocks Erinnerungen
Georg Stock.
Foto: Tobias Köpplinger | Georg Stock.
Mauerfall und Grenzöffnung 1989 waren eine, wenn nicht gar die Sternstunde der deutschen Nachkriegsgeschichte, sagt Georg Stock. Für ihn, der als Lokalredakteur der Main-Post in Mellrichstadt in der nördlichsten Redaktion des Verbreitungsgebietes arbeitete, sei es der Glücksfall in seiner journalistischen Laufbahn gewesen – mit bewegenden Erlebnissen und Momenten purer Freude, die ihm für immer im Gedächtnis bleiben. 30 Jahre später lässt der 70-Jährige viele dieser Erinnerungen in seinen Geschichten wieder lebendig werden. Eine davon ist die des Grenzers Bernd Stucke, mit dem Stock nicht nur Erlebnisse der Wendezeit teilt, sondern auch die Leidenschaft fürs Tennisspielen.
 
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