Kaum jemand hat den Mauerfall 1989 intensiver erlebt, als Menschen, die direkt in der Grenzregion wohnten. Willmars, Mellrichstadt und Ostheim gehören nicht nur zum unterfränkischen Landkreis Rhön-Grabfeld, sie liegen auch im ehemaligen Grenzgebiet. Die Mauer, die Ost- und Westdeutschland trennte, war hier nur wenige Minuten entfernt. Drei Männer waren damals hautnah mit dabei. Gerhard Schätzlein, Altbürgermeister von Willmars, Helmut Will, Altbürgermeister von Mellrichstadt und Ulrich Waldsachs, aktueller Bürgermeister in Ostheim vor der Rhön. Im Interview erzählen sie, wie sie den Mauerfall erlebten und was er ihnen heute, 30 Jahre danach, noch bedeutet.
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Was haben Sie gemacht, als am 9. November 1989 die Mauer fiel?
Helmut Will: Ich war damals bei der Bauverwaltung in Mellrichstadt angestellt. An diesem kühlen Donnerstagabend saß ich vor dem Fernseher und sah die ersten Nachrichten im ZDF. SED-Funktionär Günter Schabowski verkündete bei einer Pressekonferenz das neue, gelockerte Reisegesetz der DDR. "Das kann nicht wahr sein", sagte ich mir. Ich konnte das zunächst nicht glauben. Dann kam die Meldung auch in den 20-Uhr-Nachrichten in der ARD. Unfassbar. Meine ersten Worte, die ich zu meiner Frau sagte, waren: "Da können wir uns ja auf etwas gefasst machen."
Ulrich Waldsachs: Als Diplomingenieur war ich damals für das Vermessungsamt tätig und oft in Grenznähe unterwegs. Meine Frau und ich waren am 9. November auf einem Elternabend und ahnten zu dieser Zeit nicht, was gerade geschehen war. Als wir gegen 21 Uhr aus der Schule kamen und ins Auto stiegen, hörten wir im Radio: "Die Grenze ist auf". Wir saßen da und konnten es kaum glauben. Dann sind wir zum Geburtstag meiner Tante gefahren. Auf der Feier fragten wir sofort: "Habt Ihr es schon gehört?" Die Gäste waren wirklich völlig ungläubig und es gab nur ein Thema.
Gerhard Schätzlein: Ich war damals Bürgermeister von Willmars und gleichzeitig Lehrer. Ich kann mich noch sehr gut an den Abend des 9. Novembers erinnern. Es war ein Donnerstag, ich saß zuhause und erfuhr von der Grenzöffnung durch die Nachrichten im Fernsehen. Ich war so überrascht, da das wirklich niemand erwartet hatte. Das war schon ein sehr bewegender Moment.
Haben Sie Erinnerungen an die Nacht auf Freitag?
Will: In dieser Novembernacht war es extrem kalt. Trotzdem strömten die Menschen aus der DDR sofort zu uns. Sie haben dann die ganze Nacht in ihren Trabis bei einer Hundskälte gewartet - ohne Heizung. Ich sehe es noch vor mir: Ich stand am Fenster und starrte auf die Autos, in denen die wildfremden Menschen saßen. Ich habe mich damals nicht getraut, sie in die warme Stube hereinzubitten. Vielleicht kam diese Skepsis aus einer inneren Beklommenheit. Hinterher habe ich mich über mein Verhalten geärgert. Das würde ich nicht mehr machen. Aber ich wusste damals nicht, wer diese Menschen sind.
Wie ging es nach der Grenzöffnung weiter?
Waldsachs: Am Freitagmorgen habe ich noch nicht viel bemerkt. Später bin ich Richtung Grenzübergang gefahren und hatte sofort den Geruch von Zwei-Takt-Motoren in der Nase. Als ich den Verkehr und die vielen Trabis gesehen habe, konnte ich es realisieren - die Grenze war wirklich offen. Dann kam ich nach Hause und sah sogar Trabis in unserem Hof stehen. Wir hatten selbst Verwandte und Bekannte in der DDR. Menschen aus Thüringen, die auch vor dem Krieg schon mal in Ostheim waren. Dieser emotionale Moment hat mich sehr berührt. Ich habe dann Feldbetten besorgt, damit sie alle bei uns schlafen konnten. Wir lebten hier an der Nahtstelle einer harten Linie, die gefühlt fast um die ganze Erde ging. Plötzlich war die Grenze auf und die Menschen winkten einem zu.
Will: Als ich am Freitagmorgen um 7 Uhr zur Verwaltungsgemeinschaft in Mellrichstadt lief, sah ich schon die ersten Trabis auf dem Marktplatz. Als ich am Arbeitsplatz ankam, standen vier Männer in Blaumännern gekleidet im Eingangsbereich. Sie waren aus der DDR über Nacht zu uns gekommen. Das war mein erster direkter Kontakt. Sie wollten ihr Begrüßungsgeld abholen, waren aber zu früh dran. Ich hatte drei Schachteln Zigaretten dabei und schenkte sie den Männern. Dem vierten gab ich drei D-Mark, damit er sich auch welche kaufen konnte. Und so kamen wir ins Gespräch. Wenig später waren regelrechte Menschenmassen da. Ich half bei der Auszahlung des Begrüßungsgeldes und erinnere mich noch gut an den Abgasgestank der Trabis, das war wie blaue Luft.
Schätzlein: Am Tag nach der Grenzöffnung musste ich mich um den Unterricht kümmern und hatte wenig Zeit. Wir bekamen aber sofort Besuch von Ostdeutschen. Die Bürgermeisterin aus dem thüringischen Stedtlingen kam zu mir und lud mich als Willmarser Bürgermeister in ihre Heimatgemeinde ein. Wenig später kam der große Tag, an dem ich die Grenze überquerte. Das war ein bewegender Moment. Eine Delegation unserer ostdeutschen Nachbarn holten mich und meine Kollegen ab und wir tranken gemeinsam ein Glas Sekt. Als wir dann drüben waren, war die Begegnung für alle sehr berührend. Alle hatten Tränen in den Augen, alle umarmten sich. Das war ein unglaublich schönes Erlebnis.
Welche besonderen Erlebnisse hatten Sie außerdem bei ihren Begegnungen?
Waldsachs: Als ich mit meiner Familie kurz vor Weihnachten '89 rüber gefahren bin, sahen wir natürlich Orte, die man nur von der Karte kannte. Die Menschen dort wollten unbedingt, dass wir ihre Bratwürste probieren, ihren Kaffee trinken oder ihren Kuchen essen. Der Kontakt mit den Menschen war wirklich berührend. Auffällig war auch, dass die Menschen in den Grenzregionen den gleichen Dialekt sprachen wie wir. Da wurde mir klar: Das sind eigentlich die gleichen Leute.
Will: Ich erinnere mich noch gut daran, wie unsere Einkaufsläden überrannt wurden. Sie haben ihr Geld hier gelassen und die Regale leer geräumt. Die ganzen Südfrüchte wie Apfelsinen oder Bananen waren schnell weggekauft. Das war schon eindrucksvoll. Außerdem ist mir bei den ostdeutschen Frauen aufgefallen, dass sie ihre Augenlider alle blau geschminkt hatten. Das war damals wohl die Farbe in der DDR. Die emotionalste Begegnung hatte ich mit dem Bürgermeister von Rentwertshausen, einem Dorf in Thüringen. Er schenkte mir zur Grenzöffnung einen Feldhasen. Es war der erste, den ich selber abgezogen habe. Der Geruch war streng aber er schmeckte später umso besser.
Welche Bedeutung hatte die Grenzöffnung rückblickend für Sie persönlich?
Schätzlein: Insgesamt war die Grenzöffnung ein Segen. Das ist sie noch heute. Wir persönlich haben eigentlich keine Nachteile dadurch. Es kamen Menschen aus der DDR, die unsere neuen Mitmenschen wurden. Alleine in unserer Gemeinde gab es acht Ehepaare, die durch den Mauerfall zueinander gefunden haben. Die Grenze und deren Geschichte hat mich nie losgelassen. Und jedes Mal, wenn ich heute über die ehemalige Grenze gehe, habe ich tiefe Glücksgefühle.
Waldsachs: Ich denke sehr häufig darüber nach und bin dankbar und glücklich. Familien wurden durch den Mauerfall wiedervereint. Ich selbst hatte Verwandte drüben, von denen ich nicht mehr richtig wusste, wie sie aussehen. Dass die Grenzöffnung so reibungslos und friedlich funktionierte, war beeindruckend. Die deutsche Einheit ist ein riesiger Glücksfall. Natürlich gibt es hier und da auch Probleme. Aber gerade hier in der Region ist es uns völlig egal, ob jemand aus Bayern, Hessen oder Thüringen kommt.
Was haben Sie am 9. November 2019, 30 Jahre nach dem Mauerfall, geplant?
Schätzlein: Ich werde an diesem Tag an der Eröffnung der Ausstellung "Wahnsinn, Wende, Wiedervereinigung" im Landratsamt Schmalkalden-Meiningen teilnehmen. Allerdings beschäftigt mich der Mauerfall und die Grenzöffnung nicht nur an diesem Jahrestag, sondern eigentlich immer.
Waldsachs: Genau wie vor 30 Jahren werde ich auch an diesem 9. November wieder zur Geburtstagsfeier meiner Tante gehen. Und ich bin mir ganz sicher, dass der Mauerfall auch dann wieder ein großes Gesprächsthema sein wird.
Will: In diesen Tagen sehe ich viele Dokumentationen zur Grenzöffnung im DDR-Fernsehen, ich meine natürlich im Mitteldeutschen Rundfunk (lacht). Und das geht mir noch so nahe, dass ich Tränen in den Augen habe. Für den 9. November habe ich selbst keine Pläne. Aber ich bin mir sicher, dass ich mit meiner Frau nochmal darüber sprechen werde.