Es sind ein paar Minuten Zweisamkeit - ein paar Minuten allein mit ihrem Ehemann. Ein kurzer Rest des Sonntags, der beiden bleibt. Seit halb neun liegen die Kinder im Bett. Kurz durchatmen. Viel Zeit hat das Paar aber nicht für sich. Denn Elisabeth Rieck muss noch in die Praxis, Papierkram erledigen.
Wie fast jeden Sonntagabend brütet die Hausärztin in ihrer Praxis in der Hauptstraße in Neubrunn (Lkr. Würzburg) über Abrechnungen, studiert Patientenunterlagen, schreibt Briefe und bereitet die Montagssprechstunde vor. Der Samstag muss auch noch nachgearbeitet werden: 152 Menschen hat die 38-Jährige dieses Mal zusammen mit ihrem Team geimpft.
Das alles zehrt, kostet Kraft, treibt sie um. Da ist die Angst, an ihrem Beruf, der ihr so viel Freude bereitet, zugrunde zu gehen. Die Sorge, dass private Bedürfnisse auf der Strecke bleiben. Wo bleiben bei alledem ihr Mann, wo die Kinder? Und wo bleibt sie? Auch solche Gedanken kommen Elisabeth Rieck in diesen langen, dunklen Nächten in der Praxis - allein mit sich und der Schreibarbeit.
Damit Elisabeth Rieck Hausärztin sein kann, hat ihr Ehemann den Beruf aufgegeben
Wieder sitzt die Hausärztin hier bis ein Uhr am Schreibtisch. Wieder kein Sonntag zu Hause, kein Ausruhen auf dem Sofa, keine Entspannung. Nur ein paar Stunden Schlaf bleiben der Mutter und Ärztin, dann muss sie wieder für Familie und Patientinnen und Patienten da sein. Ihre beiden Kinder, sechs und acht Jahre alt, verabschiedet sie Montagmorgen in Kindergarten und Schule, kurz danach geht sie selber aus dem Haus.
Ihr Mann hat seinen Beruf bei der Feuerwehr in Würzburg aufgegeben. Jetzt kümmert er sich um den Haushalt. "Leicht ist ihm dieser Rollenwechsel nicht gefallen", sagt Elisabeth Rieck. Nebenbei, wenn die Kinder in der Schule und im Kindergarten sind, renoviert er sein fast 100 Jahre altes Elternhaus, in dem Elisabeth Rieck mit ihrer Familie lebt. Unterstützung bekommen sie von Opa und Oma. Auch sie wohnen in Neubrunn und helfen mit, die Kinder zu betreuen. "Sonst würde das nicht funktionieren", sagt die Ärztin.
Die Sprechstunde nach einem langen Wochenende, die Praxis war am Freitag geschlossen, ist in der Regel immer heftig. Aus Erfahrung rechnet die Hausärztin mit einem vollen Wartezimmer, vielen Infekten und einer Menge Patientinnen und Patienten, die in den vergangenen Tagen erkrankt sind und bis heute durchgehalten haben. "Da kommt meist ein buntes Potpourri an Krankheiten zusammen", weiß die 38-jährige Würzburgerin, die sich vor vier Jahren in Neubrunn als Allgemeinärztin niedergelassen hat.
Drei neue Patienten kommen zum Aufnahmegespräch
Um halb acht eine kurze Besprechung mit ihren Mitarbeiterinnen. Was steht an? Wer kommt? Worauf muss ich mich einstellen? Der erste an diesem Morgen wird ein Mann mit Atemnot sein, dann kommt eine Frau zum Gesundheitscheck und anschließend nimmt sich Elisabeth Rieck Zeit für drei neue Patienten, die sich bei ihr vorstellen, weil ihr bisheriger Hausarzt in Neubrunn nun in Rente geht. "Morgens ist der Geist noch frisch, da reserviere ich mir gerne freie Termine für solche wichtigen Gespräche, die Zeit brauchen", sagt sie und startet in eine neue Woche, die wieder gut 60 Stunden haben wird.
In der Praxis ist alles gut organisiert. Ab acht Uhr läutet das Telefon unentwegt. Jemand klagt über Hautschmerzen nach der Impfung am Samstag, manche Patientinnen und Patienten brauchen eine Krankmeldung, andere wollen noch heute in die Sprechstunde kommen. Alltag für Nadine Seifer, die in einer kleinen Kammer neben dem Empfang sitzt und mit Ruhe die Gespräche führt. Auch solche, die weniger freundlich sind. "Manche ärgern sich schon, dass sie nicht gleich durchkommen", sagt die junge medizinische Fachangestellte. Und etwa jeder dritte Anruf ist ein Hilferuf. Jemand, der verzweifelt auf der Suche nach einem neuen Hausarzt ist.
Denn das ist das Problem hier draußen, am äußersten Zipfel des westlichen Würzburger Landkreises, kurz vor der Landesgrenze zu Baden-Württemberg. Es gibt kaum noch Hausärzte. Immer mehr gehen in Rente, darunter auch Elisabeth Riecks Kollege in Neubrunn. Allein in den letzten sechs Monaten haben drei Hausärzte in der direkten Nachbarschaft ihre Praxen geschlossen. Nachfolgerinnen oder Nachfolger gibt es nicht. Über die Gründe, warum keiner die leeren Praxen übernehmen will, kann Rieck nur spekulieren. "Da gibt es sicher auch einen wahnsinnigen Investitionsstau. Da ist kaum noch an die Zukunft gedacht worden." Auch, weil "jeder sein eigenes Süppchen kocht", sagt sie. Niemand habe versucht, aktiv Nachwuchs aufs Land zu holen. Eine Lösung wäre, sich stärker in der Ausbildung junger Ärztinnen und Ärzte zu engagieren, sagt die Medizinerin.
Hier auf dem Land lebten zudem viele ältere Menschen, oft einsam zu Hause, erzählt sie. Darunter viele chronisch Kranke. Ein Pflegeheim gibt es nicht. Im vergangenen Jahr hat Elisabeth Rieck nur noch Patienten aus der eigenen Gemeinde aufgenommen - inklusive dem Ortsteil Böttigheim. Etwa 400 waren das zusätzlich. Damit sind es nun rund 1200 Menschen, die sie im Quartal betreut. "Mehr geht nicht", sagt die 38-Jährige.
Zur Verstärkung hat Elisabeth Rieck vor kurzem einen frisch gebackenen Facharzt für Allgemeinmedizin angestellt. "Ein Lichtblick, allerdings mit Schattenseiten", sagt sie und spricht offen auch über ihre finanziellen Grenzen und die Risiken, die sie als Arbeitgeberin eingeht. Denn, um sich den jungen Kollegen leisten zu können, muss sie erst einmal alles vorfinanzieren, weil die Quartalszahlungen der Krankenkassen erst spät kommen. Auch eine weitere medizinische Fachkraft zur Unterstützung wird Rieck einstellen müssen - wenn sie überhaupt jemanden findet bei diesem akuten Fachkräftemangel.
Dabei ist gar nicht sicher, wie lange Dr. Moritz Götzelmann sie hier draußen auf dem Land überhaupt unterstützen wird. Der 33-Jährige wohnt in Würzburg und fährt jeden Morgen gut eine halbe Stunde nach Neubrunn. "Im Winter durch Wald und Dunkelheit. Das ist nicht schön, ich könnte auch gut in der Stadt arbeiten", sagt er. Geblieben ist er, weil die Praxis von Elli, wie er seine Chefin nennt, die letzte Station seiner Weiterbildung war.
Ein Brief aus Verzweiflung und die Hoffnung auf eine Lösung
Wenn Götzelmann geht, steht Elisabeth Rieck alleine mit 1300 Patientinnen und Patienten im Quartal da - "normal sind vielleicht 900", sagt sie. Aus Verzweiflung schrieb sie ihre Lage und ihre Sorgen nieder, packte alles in eine eindrucksvolle E-Mail, die an Alexander Schraml, den Chef des Kommunalunternehmens im Landkreis Würzburg ging. Denn von der Kassenärztlichen Vereinigung kommen keine Lösungen, klagt Rieck.
"Was kann ich den Scharen an Patient:innen sagen, die bei mir aufgenommen werden möchten? Wohin sollen sie sich wenden? Ich werde es nicht richten können! Zu Corona-Zeiten mit den vielen Impfungen, Infekten und Sonderregelungen schon gar nicht. Dann streiche ich lieber die Segel und suche mir einen entspannten Job in Anstellung von 8 bis 16 Uhr. Gute Nacht aus Neubrunn", schreibt sie an Schraml, mit dem sie sich mittlerweile auch getroffen hat.
Elisabeth Rieck erhofft sich Hilfe, vielleicht ein Ass im Ärmel, eine Lösung. Denn die immer schlechter werdende hausärztliche Versorgung im ländlichen Bereich ist mittlerweile auch ein politisches Thema. Das weiß sie, denn sie ist nicht nur Ärztin in Neubrunn, sondern auch Gemeinderätin.
Das Kommunalunternehmen will Hausärzte in Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) anstellen und so Gemeinden helfen, die keine Ärzte finden. Und auf der anderen Seite Ärzten helfen und ihnen die bürokratischen Verpflichtungen eines Arbeitgebers abnehmen. In Waldbrunn, gut 14 Kilometer entfernt, soll vielleicht in ein paar Jahren ein solches MVZ entstehen. "Aber wie sollen die älteren Patienten überhaupt dorthin kommen, wenn es nicht einmal eine vernünftige Busverbindung gibt?"
Dass Elisabeth Rieck noch nicht die Segel gestrichen hat, liegt an ihrer Leidenschaft, mit der sie ihren Beruf ausübt. "Ich lebe und leide mit meinen Patienten. Hausärztin ist mein Traumberuf", sagt sie und nimmt dabei einen 72-Jährigen rührend in den Arm. Dann gehen die beiden ins Arztzimmer. Befunde vom Kardiologen und Urologen werden besprochen und kurz über das Rauchen gesprochen. "Schmecken die Zigaretten noch?", fragt die Ärztin ihren Patienten.
Der Mann beschwichtigt: "Es ist nicht so, dass ich süchtig bin", sagt er und erzählt stolz, dass er jetzt viel weniger rauchen würde als früher. In seinen Hochzeiten seien es schon mal 60 Stück am Tag gewesen, jetzt vielleicht zehn. Elisabeth Rieck klärt ihn über schlimme Folgeerkrankungen auf, der Mann nimmt es dankbar an - und lenkt charmant ab: "Für uns in Neubrunn sind Sie ein Sechser im Lotto", sagt er seiner Ärztin - und beide lachen laut.
Gegen 11 Uhr füllt sich das Wartezimmer. Jetzt kommen die Patientinnen und Patienten mit akuten Erkrankungen. Viele davon behandelt ihr Kollege. Elisabeth Rieck redet noch mit einem 82-Jährigen - ein neuer Patient, der vor fünf Jahren seine Frau verloren hat. "Der Mann ist robust und zäh", sagt die Ärztin und geht den bisherigen Medikamentenplan durch: Allein 14 Tabletten zum Frühstück. Sie staunt. Aber er kommt damit gut zurecht und erzählt von Krankheiten in seiner Kindheit, von der Geburt seiner Kinder, bei der er nicht dabei sein durfte und von seiner Frau, an die er jeden Tag denken muss. "Schön, dass noch eine Ärztin im Ort ist und ich nicht auswärts muss", sagt er nach einer halben Stunde und wird jetzt auch in die Kartei von Elisabeth Rieck aufgenommen.
Kurz vor zwölf Uhr zieht sich Elisabeth Rieck Schutzkittel, Haube und Handschuhe an - die Infektsprechstunde beginnt. Sechs Namen stehen auf ihrer Liste. Bei allen wird Fieber gemessen, Lunge und Herz abgehört, die Lymphknoten getastet, ein Abstrich für einen Corona-Test genommen. Zwischendurch, eine Patientin ist nicht pünktlich, lehnt sich Rieck entspannt in den Türrahmen und verkürzt die Wartezeit mit Humor: "Genieße den Augenblick", ruft sie durch den Praxisflur - wohlwissend, dass dieser nur von kurzer Dauer sein wird. Eine Minute später klingelt die verspätete Frau an der Tür.
Elisabeth Riecks Tochter Ronja ist zwischendurch vorbeigekommen. Sie macht ihre Hausaufgaben in der Praxis, bis sie heute ausnahmsweise der Papa abholt. Rieck und ihr Kollege sind noch beschäftigt. Um 15 Uhr will sie Feierabend machen. Ihren Sohn Richard vom Kindergarten abholen. "Der freut sich, wenn die Mama mal kommt", sagt sie. Später, wenn die Kinder im Bett sind, wird sie wieder in die Praxis gehen. Wie fast jeden Abend.
Mediziner gibt es sicherlich genug, keiner will sich aber diese Tretmühle antun
Fürsorge für andere braucht ausreichend Selbstfürsorge.
Heute am Anschlag und morgen?