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Schweinfurt
Der Schweinfurter Stattbahnhof: Wie das Kulturhaus zum Mittelpunkt einer Szene wurde
In Schweinfurt ist der Punk los. Zumindest am Rande der Altstadt. Ein Blick in eine Szene, die gegen Region und Gesellschaft rebelliert und doch Teil von ihr ist.
Das Kulturhaus Stattbahnhof in der Alten Bahnhofsstraße in Schweinfurt ist ein wichtiger Ort für die Alternative Kulturszene in ganz Unterfranken. Etwa 120 bis 150 Konzerte finden pro Jahr hier statt. 
Foto: Anand Anders | Das Kulturhaus Stattbahnhof in der Alten Bahnhofsstraße in Schweinfurt ist ein wichtiger Ort für die Alternative Kulturszene in ganz Unterfranken. Etwa 120 bis 150 Konzerte finden pro Jahr hier statt. 
Marcel Dinkel
 |  aktualisiert: 24.06.2024 16:13 Uhr

In meterlangen Schlangen stehen sie vor dem Gebäude. Frauen in zerrissenen Jeans, bemalt mit knallbunten Tattoos, neben langbärtigen Männern mit Kopftüchern, lackierten Fingernägeln und Lederstiefeln. Über dem aufgeheizten Asphalt auf dem Vorplatz des ehemaligen Bahnhofsgebäudes liegt eine Wolke aus Tabakrauch und Bierduft aus zischenden Dosen. Dazu wildes Gelächter. Hinein in die Empfangshalle, vorbei an knallbunten Graffitis, unzähligen Stickern und grinsenden Totenköpfen mit Lippenpiercings an der Wand. 

Seit 1997 residiert das Mitte der Achtziger als Kollektiv gegründete Kulturzentrum Stattbahnhof in der Alten Bahnhofsstraße am Rande der Schweinfurter Innenstadt. Jeden Freitag und Samstag zieht es das ganze Jahr über hunderte Feierwütige aus der Region in die legendären Konzerthallen, die längst ein Mekka der alternativen Musikszene geworden sind. Hier haben alle Spielarten des Rock und Metal ein Zuhause, auch Technoabende und Rappshows finden statt. Ein Herzstück freilich ist der Punk. NOFX, die Toten Hosen, Pussy Riot - alle seien sie schon mal hier gewesen, erzählt Steffen Rose. 

Rose ist Veranstalter, organisiert jährlich hunderte Konzerte und bringt Bands aus der ganzen Welt nach Schweinfurt. "Ich bin zu dem Job wie die Jungfrau zum Kind gekommen", erinnert sich der gelernte Glasbläser aus Wertheim. Die Arbeit als Glasbläser habe ihn nicht erfüllt. So wurde Rose so etwas wie der Maestro der alternativen Punk-Szene in der Region. Oder, wie er sagen würde, eines der "Zahnräder" in der Maschine von Leuten, die die Szene am Laufen hält.

An diesem Abend hat der 58-Jährige die Band Heaven Shall Burn in den Stattbahnhof geholt. Eine Metalcore Band aus Saalfeld an der Saale, die normalerweise auf Bühnen bei Rock am Ring oder Wacken vor mehr als 70.000 Menschen spielt. Eine Institution. Und jetzt hier? "Die Jungs sind früher schon mit dem Zug aus dem Osten hergefahren und haben sich hier die Shows angeschaut, weil in Jena oder Leipzig nichts ging", sagt Rose.

Der Sänger der Band, Markus Bischof, wird das wenig später auf der Bühne bestätigen. "Eine geile Stadt und eine geile Location", ruft Bischof den gut 400 begeisterten Fans zu. Geil, weil Schweinfurt geografisch zentral in Deutschland liegt, zwischen der A7 und A71? "Nicht nur", sagt Rose. Eher wegen des Angebotes und den Menschen hier, meint er. 

Tagsüber Arbeit, abends Rebellion: Wie die Szene und der Stattbahnhof entstand

Entstanden sei das alles Ende der 1980er-Jahre. Im Umkreis von Schweinfurt habe es viele Bands aus der 68er-Generation und zahlreiche Musikwohngemeinschaften gegeben, sagt Rose: "Wir waren keine Punker, die eine soziale Revolution starten wollten." Eher so die Kategorie "Feierabendpunker", die morgens arbeiteten und abends gegen alles Spießige und die eigenen Eltern rebellieren wollten.

Beim Konzert der Band Heaven Shall Burn Ende Mai 2022 herrschte spürbar gute Stimmung bei einem ausverkauften Haus im Schweinfurter Stattbahnhof.
Foto: Fabian Gebert | Beim Konzert der Band Heaven Shall Burn Ende Mai 2022 herrschte spürbar gute Stimmung bei einem ausverkauften Haus im Schweinfurter Stattbahnhof.

Einer dieser Rebellen von damals ist Eric Greulich, ein Punker der ersten Stunde. Als 13-Jähriger habe er damals ein Video von der Punk-Band Dead Kennedys zu Gesicht bekommen, erzählt Greulich: "1984 in San Francisco. Was ich da gesehen habe, hat von heute auf morgen meine ganze Weltanschauung zerrüttet." Er wollte mehr. Sein Bruder habe ihn daraufhin mit an einen Ort namens "Alte Schreinerei" am Obertor nach Schweinfurt genommen, blickt Greulich zurück. "Der Laden war ein Original", sagt Steffen Rose. "Dort liegen die Wurzeln des Stattbahnhofs."

Wo der Stattbahnhof seinen Ursprung hatte

"Die Alte Schreinerei war damals ein Ort, an dem all diejenigen hin sind, die sich in ihrer Dorfdisco oder den kommerziellen Clubs nicht wohlfühlten", erinnert sich Thomas Hübner. Den Mann mit entspannter Stimme, langer grauer Mähne und Bart nennen die meisten hier "Hue". Er macht den Papierkram für den Trägerverein des Stattbahnhofs, veranstaltet ebenfalls Konzerte und übernachtet zur Not auch mal auf seinem Bürostuhl, wenn er es nach einem 18-Stunden-Tag nicht mehr nach Hause schafft.

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"Angefangen hat damals alles an der Brückenstraße", erinnert sich Hübner. In einer Hausreihe, wo heute das Museum Georg-Schäfer steht, habe es ein Lokal gegeben, in dem sich die Jugendlichen trafen. Das "Sofa", wie es genannt wurde, war die erste soziokulturelle Einrichtung in Schweinfurt, erklärt Hue. Als das aus allen Nähten platze, habe die Stadt die Feierwütigen in eine alte Schreinerei am Obertor verfrachtet und das Gebäude zur Verfügung gestellt.

Dort fingen dann Leute wie Steffen Rose damit an, Konzerte zu veranstalten. "Ende der 80er hat es kaum solche Clubs gegeben", sagt Rose. Die Nachfrage war riesig, jedes Wochenende wurde das Gelände belagert. Sogar aus Würzburg seien die Leute gekommen.

"Die 90-Jahre hier kannst du mit Berlin vergleichen", sagt Eric Greulich. Aus einem Umkreis von 300 Kilometern seien Besucherinnen und Besucher damals zu den Konzerten gepilgert. "Als NOFX dort spielte, standen sie bis raus auf die Straße." Über 200 Leute, die sich aufeinander stapelten. Die Shows in der Schreinerei hätten wiederum dazu geführt, dass sich in Schweinfurt schließlich eine eigene Musikszene entwickelt habe. "Plötzlich hatten dort dann lokale Bands die Möglichkeit, als Vorband für große Acts zu spielen", sagt Greulich.

Der Schweinfurter Stattbahnhof: Wie das Kulturhaus zum Mittelpunkt einer Szene wurde
Foto: Fabian Gebert

Als die langen Party-Nächte und andauernden Exzesse Anwohnerinnen und Anwohner und Stadt irgendwann in den Wahnsinn trieben, versuchte die Stadtverwaltung allem ein Ende zu setzen, erzählt Hue. Der Platz und das Gebäude gehörten der Stadt, der Mietvertrag war befristet, die Stimmung sei rauer geworden. "Die Polizei hätte täglich zur Räumung vorbeikommen können." Von da an begannen viele aus der Szene, das Haus dauerhaft zu besetzen, sagt Hue. Als die Bahn dann das Gebäude des ehemaligen Schweinfurter Stadtbahnhofs an die Stadt Schweinfurt verkaufte, verfrachtete der Stadtrat die Punks und die alternative Musikszene letztlich dort hin.

Darum können viele der Gäste auch heute noch mit dem Zug herkommen. An der Haltestelle Bahnhof Stadt. Nur Name und die Schreibweise haben sich geändert: "Mit doppeltem T, anstatt des Bahnhofs", sagt Hue. Heute gehört das Gebäude immer noch der Stadt, darf jedoch vom Verein verwaltet, genutzt und ausgebaut werden. "Der Umzug von der Schreinerei hierher war wie eine Neufindung", sagt Eric Greulich. Zunächst war alles eine Baustelle. Nach und nach habe sich die Szene aber trotzdem gefunden. "Der Spirit ist geblieben, auch wenn alles professioneller geworden ist."

Während der Pandemie haben der Verein und das Team die Bühnenhalle im Stattbahnhof renoviert und weiter ausgebaut.
Foto: Anand Anders | Während der Pandemie haben der Verein und das Team die Bühnenhalle im Stattbahnhof renoviert und weiter ausgebaut.

Einer, der dem Anschein nach ebenfalls sein halbes Leben hier verbracht hat, ist Marco Heinickel. 34 Jahre alt, Spitzname Heino. "Weil ich mit 15 die Haare wasserstoffblond gefärbt hatte." Heino ist der Vorsitzende des Trägervereins und arbeitet gelegentlich als Türsteher bei den Konzerten hier. Er sagt: "Dieser Ort war schon immer wie ein zweites Wohnzimmer für mich."

Heinickel kommt aus Wasserlosen im Landkreis Schweinfurt und arbeitet hauptberuflich als Industriemechaniker im Schichtbetrieb bei Schaeffler. "Mein absolutes Highlight war damals die Punkband Pennyswise. Eine so große Band kann man nur im Stattbahnhof so nah erleben", schwärmt er. Er ist von Kopf bis Fuß tätowiert, auf dem Hinterkopf hat er eine Silhouette des Gebäudes verewigt. "Im Endeffekt", sagt Heino, "verdanke ich diesem Laden einfach sehr viel."

Was die Shows und die Szene im Stattbahnhof so besonders macht

"Das Schöne an Punk-Shows hier ist, dass die Menschen ganz nah an den Bands dran sind. Hier gibt es keine Berührungsängste zwischen den Leuten. Für uns sind die Shows jedes Mal wie ein Familientreffen", fasst Steffen Rose den Ort und die Bedeutung für sich zusammen. Zwischen 120 und 150 Veranstaltungen finden hier pro Jahr statt. "Wenn du mir eine Punkrock Band nennen kannst, kann ich dir bei 90 Prozent sagen, dass sie hier gespielt hat, außer sie ist tot."

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Und wie steht es heute um die Szene und den Bahnhof? "Einen festen Kern hat die Schweinfurter Szene immer noch", meint Eric Greulich. Viele Leute zieht es seit 25 Jahren hierher. Gleichzeitig kämen auch viele junge Menschen von weiter weg zu den Konzerten. "Der Stattbahnhof ist eine Generationen-Geschichte", sagt Greulich. Jeder und jede sei hier willkommen. "Du musst auch keine Dr. Martens tragen oder auf dem Boden schlafen und Punk sein." Neben dem Trägerverein sind auch Greenpeace und ein Computerclub im Gebäude untergebracht.

Die Folgen von Corona - und die Hoffnung für die Zukunft

Corona aber habe der Szene zugesetzt, meint Steffen Rose. Einerseits fehlten die jungen Leute, die es jetzt durch die Pandemie verpasst haben auf Konzerte zu gehen. Andererseits wird die ältere Generation vermisst, die 60-plus-Leute, die aufgrund von Corona zuhause bleiben und vorsichtiger geworden sind. Zudem seien viele ältere Musiker an Corona gestorben oder touren auch nicht mehr, sagt Rose.

Was die Zukunft betrifft, hofft das Team deshalb wieder auf mehr Shows, mehr Besucherinnen und Besucher sowie mehr Unterstützung von der Politik und den Menschen vor Ort. "Wir machen keine politischen Aktionen und haben keinen Verkaufszwang", sagt Thomas Hübner. Der Stattbahnhof müsse schauen, dass Löhne und Kosten über die Konzerte und den Barbetrieb gedeckt werden können. "Wir brauchen hier bei 95 Prozent der Veranstaltung eine Auslastung von 80 bis 90 Prozent, damit diese sich zumindest rentieren und kostendeckend sind."

Marco Heinickel ist Vorsitzender des Trägervereins und arbeitet gelegentlich als Türsteher bei den Shows im Stattbahnhof.
Foto: Anand Anders | Marco Heinickel ist Vorsitzender des Trägervereins und arbeitet gelegentlich als Türsteher bei den Shows im Stattbahnhof.

Auch suche man derzeit nach Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an der Ton- und Lichttechnik, denn während der Pandemie sind viele in andere Jobs abgewandert. "Die kommen nicht mehr zurück ins Business", sagt Rose. Im gesamten Live-Betrieb und damit essenziellen Teil der Szene müssten letztlich viele Zahnräder ineinander greifen. "Das hakt momentan und wird drei bis vier Jahre dauern, bis sich das wieder entkoppelt."

Da ist Konzert wie das von Heaven Shall Burn, wie ein Hoffnungsschimmer, dass alles wieder wie früher werden kann und die Leute zurückfinden. Im Stattbahnhof hofft man zumindest darauf.

Wie der Autor zu der Geschichte kam

Marcel Dinkel
Foto: Fabian Gebert | Marcel Dinkel
In einer Stadt von der Größe wie Schweinfurt ist ein Konzerthaus wie der Stattbahnhof nicht selbstverständlich. Für die alternative Musikszene in Unterfranken ist der Stattbahnhof ein Ort zum Stattfinden, zum Leute-Treffen und zum Ausleben von Musik und Kultur. Leider wird diese Szene und ihr kultureller Wert für die Menschen in der Region nicht immer von allen Seiten gleichermaßen wertgeschätzt. Ich hoffe, dass dieser Bericht einen Teil dazu beträgt, das Besondere an diesem Ort sichtbarer zu machen.
dink
 
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