Er ist der Letzte seiner Zunft in der Korbflechtergemeinde Sand am Main. Schon sein Urgroßvater flocht aus Weidenzweigen Alltagsdinge, die jahrzehntelang halten. Warum Stefan Rippstein weitermacht - trotz schmerzenden Händen, Corona und Klimawandel.
Ein Mann sitzt auf dem Marktplatz von Haßfurt und flicht. Einen alten Holzstuhl zwischen die Knie geklemmt, tunkt er immer wieder dünne lange Schalen in den Wassereimer neben sich. Das Rattan soll geschmeidig werden, damit die flinken Finger flechten können. Ein Kunde hat den betagten Stuhl gebracht, die Sitzfläche hatte Dellen und Risse. Und der Mann auf dem Haßfurter Markplatz nimmt sich seinen gebogenen Pfriem, taucht Rattanstreifen für Rattanstreifen ins Wasser und verpasst dem Möbel ein neues Geflecht.
Den Stuhl vor sich und die Hände in Bewegung, sagt Stefan Rippstein: „Arbeiten kann ich überall.“ Neben ihm, rechts und links, stehen Korb an Korb an Korb fein aufgereiht auf dem Kopfsteinpflaster. Hinter ihm, auf dem Dach des Mercedes, Baujahr 1983, stapeln sich Körbe. Auf der Kühlerhaube und im aufgeklappten Kofferraum liegen und stehen Körbe, groß und klein. Dazwischen zwei, drei Besen. Und ein bisschen Gartendekoration, auch geflochten . . .
„Die Leute wollen wieder wissen: Wer hat's gemacht? Kommt es aus der Region? Ist es behandelt“, sagt Stefan Rippstein und zieht und zupft am Rattan. Wer's macht und ob es aus der Region kommt, sieht man kaum irgendwo besser als hier in den Haßbergen auf dem Markt. Corona erlaubt es an diesem Frühlingstag gerade, Rippstein darf an der frischen Luft seine Waren feilbieten. Und so ist er mit seinem alten Kombi vollbeladen aus Sand in die Stadt gefahren und wirkt und flicht da.
So wie er es seit Jahrzehnten macht, der letzte und einzige hauptberufliche Korbflechter aus der Korbflechtergemeinde am Main. Rippsteins Urgroßvater flocht schon aus dunklen und hellen Weidenzweigen Körbe und Truhen, Großvater und Vater auch. Das alte Handwerk hatte lange, lange Zeit die ganze Gemeinde ernährt. Die Bäume wuchsen ja zahlreich und gut, hier in den Auen am Fluss. Und ihre Zweige bringen alles mit, was man fürs Korbwerk braucht: zäh genug, um viel auszuhalten. Biegsam genug, um sich flechten zu lassen.
„Fast in jeder Familie ist geflochten worden“, sagt der 52-jährige Korbmachermeister über das uralte Sander Handwerk. Und wenn er heute bei Beerdigungen ist und wieder einer zu Grabe getragen wird, der die alte Kunst beherrschte und das Handwerk konnte, dann komme er immer ins Grübeln. „Das kann doch nicht sein. Das darf doch nicht verloren gehen“, sagt Rippstein.
Rippstein kann viel erzählen, über die Bedeutung der Verflechtungen für sein Heimatdorf, für die ganze Region – und für die Menschheit. Man muss sich die Weltgeschichte ja nur mal ohne Körbe vorstellen. Dank der geflochtenen Behältnisse konnten die Menschen sesshaft werden und Jäger und Sammler ihre Beute bequem nach Hause tragen. In den Körben konnten Lebensmittel aufbewahrt werden. In den Reusen verfingen sich die Fische. Und die geflochtenen Zäune hegten ein und sicherten das Vieh.
Wenn er selbst heute Gartenzäune aus daumendicken Weidenruten macht, „dann merke ich das nachts in den Händen“, sagt Stefan Rippstein. Ein kleines Brotkörbchen ist fix gemacht. Große Körbe und mächtige Truhen kosten Kraft. „Kunst ist schön, aber macht Arbeit“, zitiert der Korbmachermeister Karl Valentin. Und sagt: „Ich will eigentlich auch aufhören.“
Kaum ausgesprochen, folgt gleich der nächste Satz: „Ich bin mit Herzblut dabei, das Korbmachen macht mir Spaß!“ Und noch einer geht: „Ich möchte nicht nur eine alte Handwerkskunst bewahren, sondern auch ein Stück Kulturgeschichte erhalten.“
Also steht er weiter daheim, am Sander Ortsrand, in der Werkstatt und macht Einkaufskörbe, Wäschekörbe, Babykörbe, Kartoffelkörbe, Körbe in allen Größen und Formen. Der Vater wird 80 heuer und hilft und arbeitet noch immer mit. Und Rippsteins Sohn Valentin auch, er hat im Herbst in Lichtenfels an der Korbmacherschule die Lehre zum Korbflechtgestalter angefangen, zur Freude des Vaters.
Gleich hinterm Haus wächst der Rohstoff, da haben die Rippsteins ein Weidenfeld. Jetzt, im Mai, schälen sie wieder die im Winter, während der Saftruhe, geschnittenen Ruten. Früher waren das aufregende Wochen in Sand, da klapperten und schepperten überall in den Höfen die Schälmaschinen. Weiße Weide für weiße Korbwaren. Inzwischen müsse er schon mal fünf Zentner – „so leid es mir tut“ – aus dem Ausland dazu kaufen, sagt Stefan Rippstein. Und runzelt die Stirn: „Der Klimawandel, da wird man nachdenklich.“ Es ist zu trocken am Main, die heißen Sommer . . . 30 Liter mehr oder weniger im Jahr könnten über die Weidenernte entscheiden. Früher sei das nie ein Thema gewesen. „Aber bewässern? Wollt‘ ich ned!“
Aber weitermachen schon. Am liebsten flechte er die ganz normalen, klassischen Wäschekörbe, sagt Rippstein. So einen habe man 30, 40 Jahre. Manchmal bringen ihm ältere Ehepaare nach Jahrzehnte das Hochzeitsgeschenk vorbei, weil der Griff wackelt und repariert werden muss. Ansonsten halte so ein Weidenkorb ewig: „Nachhaltiger geht's nicht!“, sagt Rippstein. Und ja, urige Weidensessel mag der Korbmachermeister auch. Weil sie „so schön knistern“. Und man darin entspannt sitzen kann.
Vor vier Jahren ist Rippsteins Handwerk ins bundesweite Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes aufgenommen worden. Auch ein Grund, die eigenen Körbe auf den alten Kombi zu binden und über die Dörfer zu fahren. So wie die Vorfahren früher. Da zogen die „Sander Raaser“ mit Schubkarren von Ort zu Ort, von Haus zu Haus, um ihr Flechtwerk an den Mann und die Frau zu bringen. „Das muss man können“, sagt Rippstein zum Haustürgeschäft. Bislang ist er mit seinen Körben vor allem auf Handwerkermärkte gefahren, bis nach Hessen, in den Odenwald und ins Bergische Land bis zu 40-mal im Jahr. Aber durch Corona und die Veranstaltungsverbote . . .
Künftig soll der alte Mercedes, der schon 15 Jahre in der Scheune gestanden hatte und den ein Nachbar wieder fahrtüchtig machte, eben als „Raaserauto“ unterwegs sein. Rippstein hat sich vorgenommen, mehr durch die Gegend zu fahren und vom Kulturgut zu erzählen, dass außer ihm nur noch wenige beherrschen. Und ob Werkstatt, Wiese oder Fußgängerzone – flechten kann er überall.
Schön, dass die Tradition in der Familie bleibt.