Der Irtenberger Wald? Buchen, Eichen, Wildobst und Edelhölzer! Südwestlich des Autobahndreiecks Kist ist in einem kleinen Gebiet Staatswald eine Vielfalt an Laubbaumarten zu erleben, so reich und üppig wie kaum anderswo in Bayern. Beim Waldspaziergang wird klar, warum die Natur hier ab sofort sich selbst überlassen ist.
Schwer zu sagen, wie viele große und sehr alte Bäume hier wohl tatsächlich stehen. Wolfgang Schölch antwortet mit einer Größenordnung der Förster: „Es stehen durchschnittlich circa 350 Festmeter Holz auf einem Hektar. Das heißt, der Holzvorrat des gesamten Schutzgebietes liegt bei annähernd 175 000 Festmetern Holz.“ Den ratlosen Blick erwidert Schölch mit einem Vergleich: Würde man all das Holz des 510 Hektar großen Gebiets auf fünf Meter kürzen und drei Meter hoch aufstapeln – der Polter würde 1,5 Kilometer weit reichen. Jedes Jahr kommen pro Hektar weitere acht Festmeter dazu, sagt der Forstmann, insgesamt also 4000 Festmeter mehr Holz.
Als ob man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen würde! 20 Jahre lang war Wolfgang Schölch hier, im Irtenberger Wald, Forstreviersleiter. Wohl kaum jemand kennt das Gebiet, das Forstministerin Michaela Kaniber gerade zum neuen „Naturwald“ ernannt und unter Schutz gestellt hat, so gut wie er. Bäume mit mehr als 60 Zentimetern Durchmesser? „Gibt es sicher einige Hundert“, sagt Schölch. Weit mehr als die Hälfte der Bestandsfläche sei älter als 100 Jahre. Die stolzesten Buchen, bis zu 45 Meter hoch und 150 Zentimeter stark, müssen mehr als 200 Jahre alt sein.
Inzwischen leitet Schölch das Forstrevier Maintal – aber über dieses kleine, besondere Stück Staatswald an der Autobahn A 3, ganz nahe bei Würzburg, kann der Förster viel erzählen. Machtsymbol war dieser Laubwald immer – und Streitobjekt. Bis 1584 zankten sich die Herrschenden von Mainz und Würzburg, wem der Wald mit seinen Hirschen und Wildschweinen gehören sollte. Immerhin, dank fürstbischöflicher Jagdleidenschaft blieb das Gebiet vor Rodungen geschützt. Heute indes geht es um die Frage, wie sich die Natur entwickeln soll . . .
Denn hier, im insgesamt gut 4000 Hektar umfassenden „Irtenberger und Guttenberger Wald“ im nicht gerade waldreichen Landkreis Würzburg, wachsen mehr wärmeliebende Baumarten als im Spessart und im Steigerwald. Innig durchmischt stehen hier junge Bäume unter Methusalemen. Die Buche mit gut 60 Prozent Anteil dominiert. Aber dazu kommen nach 15 Prozent Eichen ebenso viele Edellaubhölzer, die auf den Muschelkalk- und Lößböden gut gedeihen: Eschen, Ahorne, Kirschen und anderes Wildobst, Hainbuchen, Linden, Speierlinge zählt Christoph Riegert, Leiter des zuständigen Forstbetriebs Arnstein, auf.
„Sehr nah an der Natur“ sei die Waldstruktur, sagt Riegert. Vor allem, dass hier nur zehn Prozent Kiefern, Fichten, Lärchen oder Tannen wachsen, macht das Gebiet ökologisch so wertvoll: „Nadelholz gehört natürlicherweise hier nicht rein.“ Die große Vielfalt an Laubbaumarten geht auf die Bewirtschaftung als „Mittelwald“ zurück, die hier bis ins 19. Jahrhundert praktiziert wurde. Man fällte Bäume fürs Brennholz, aus den Stümpfen trieben Eiche, Hainbuche und Linde wieder aus. Und manche Eichen ließ man auch stehen, um später Bauholz zu haben oder die Schweine zu mästen.
Und ab sofort wird die reiche Mischung sich selbst überlassen. Ende Mai verkündete die Forstministerin, 5000 Hektar Staatswald als „Naturwälder“ dauerhaft unter Schutz zu stellen: einen großen Teil der Isar-Auwälder zwischen München und Landshut und drei besonders wertvolle Buchen-Mischwälder. Auf der Frankenalb bei Kelheim, im Steigerwald – und eben hier auf der Fränkischen Platte, an der Grenze zu Baden-Württemberg. Ab sofort, so Michaela Kaniber, wird der Wald nicht mehr forstwirtschaftlich genutzt.
Dass ausgerechnet ein Gebiet im waldärmsten Landkreis des Freistaats dabei ist? „Das macht uns schon stolz“, sagt Forstbetriebsleiter Christoph Riegert. Und verweist auf die jahrzehntelange Arbeit der Förster im Irtenberger Wald: „Das ist das Produkt einer nachhaltigen, naturnahen Waldbewirtschaftung.“ Und dann zählt Riegert auf: Schwarzspecht, Mittelspecht und Kleinspecht, Hirschkäfer und Springfrosch, Hohltaube, Halsbandschnäpper, sogar ein Schwarzstorch wurde neulich im Flug über der Autobahn gesehen. Was den Forstwissenschaftler besonders begeistert, sind die vielen Fledermausarten im neuen Naturwald. Bechsteinfledermaus, Fransenfledermaus, Braunes Langohr – über die abplatzende Buchenrinde und das Totholz, das jetzt mehr und mehr zunehmen wird, werden sie sich freuen.
Im Irtenberger Wald könne man „die Zerfallsphase eines Buchenwaldes hautnah erleben“, sagt Wolfgang Schölch über sein ehemaliges Revier. „Einerseits erschreckende Waldbilder, andererseits der Beginn von etwas Neuem.“ Die beiden extrem trockenen Jahre 2018 und 2019 beförderten den Prozess des Verfalls. Auch bei den großen alten Buchen seien die Schäden weit gravierender als nach dem Trockensommer 2003, sagt Elfi Raunecker, die Bereichsleiterin Forsten am Amt für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (AELF) in Würzburg. Die spannende Frage für die Forstleute: Welche Baumarten machen in Zukunft das Rennen?
Elfi Raunecker wird jetzt unter anderem die Bürgermeister der Nachbargemeinden, Vogelschützer, Umweltverbände und Behördenvertreter einladen und ein Konzept entwickeln, wie Waldbesucher in dieser Ecke Unterfrankens künftig die Entwicklung von Flora und Fauna mitverfolgen können. Armin Amrehn, Vorsitzender Kreisgruppe Würzburg im BUND Naturschutz, spricht von einem „besonderen Geschenk“ und der „Chance, natürliche und langsame Waldprozesse hautnah auf größerer Fläche zu erleben“. Ersten spontanen Bürgermeister-Ideen wie einem Aussichtsturm erteilte der BUND Naturschutz eine klare Absage: „Die Natur, ihre seltenen Kostbarkeiten und vielfältigen Geheimnisse sollten eher im Mittelpunkt stehen.“
Auf der anderen Seite der Autobahn, östlich des neuen Naturwaldes, liegt übrigens das Blutsee-Moor, das schon seit 1941 geschützt ist und durch den größten Schwingrasen Unterfrankens beeindruckt. Und wenige Schritte nördlich vom Moor ist auf einem Hektar unbewirtschaftetem Eichenwald das erste Pilzschutzgebiet Bayerns ausgewiesen worden. Ein Grund, warum sich auch die Pilzfreunde Mainfranken über den Irtenberger Wald freuen.
Man überlässt den Wald sich selbst, planiert und betoniert aber vorher noch schnell ein paar Flächen für Fundamente, Wege und Parkplätze, nicht zu vergessen die Rampen für den barrierefreien Zugang (wie wäre es mit einer Seilbahn?), damit der Mensch die Natur, das unbekannte Wesen, besser erkunden kann.
Zwei Schritt vor, einen zurück. Nicht dass die Natur noch übermütig und aufmüpfig wird..