Der Glockenturm der katholischen Pfarrkirche in Karlstadt ist zwei Wochen lang verpackt mit weißem Stoff. Was die Idee dahinter ist und was die größten Herausforderungen waren.
Warnwesten und Schutzhelme, Spanngurte und ein riesiger Kran: Das Spektakel an der katholischen Pfarrkirche "Zur Heiligen Familie" in Karlstadt (Lkr. Main-Spessart) dürfte Uneingeweihte auf den ersten Blick wohl mehr an eine Baustelle erinnert haben statt an eine Kunstaktion.
Wenige Tage nach den mühsamen Arbeiten sitzen einige der insgesamt zehn Schülerinnen und Schüler aus dem Projekt-Seminar "Wir verpacken unseren Kirchturm" des Johann-Schöner-Gymnasiums zum Interview in einem Innenhof des Gotteshauses. Seit Februar hatten sie darauf hingearbeitet, nun ist es geschafft: Der über 30 Meter hohe Glockenturm hinter ihnen sieht aus, als hätte jemand ein weißes Bettlaken darüber geworfen und dann mit roter Paketschnur festgezurrt.
Schüler erstaunt, dass Projekt solche Wellen schlägt
Der Medienrummel um das Kunstprojekt "Wrapped Clock Tower" war riesig. Bundesweit berichteten große Zeitungen und Fernsehsender über die Verhüllungsaktion der Zwölftklässler aus Karlstadt. "In diesem Umfang haben wir damit nicht gerechnet", sagt die 17-jährige Mara Illek.
Auch ihr Mitschüler Bruno Stöhr ist erstaunt, welch große Wellen die Aktion schlägt. Er bekomme im Moment viele Whatsapp-Nachrichten von Bekannten, die "cool" finden, was er und sein Seminar auf die Beine gestellt haben, sagt der 18-Jährige. Karlstadts Bürgermeister Michael Hombach spricht von einem "außerordentlichen Kunsterlebnis", das "in Erinnerung bleiben" werde. Auch Pfarrer Simon Mayer ist begeistert: "Für uns als Pfarrei ist das ein großes Geschenk."
Über die Rolle des Kirchturms in Religion und Gesellschaft nachdenken
Es gibt auch kritischere Stimmen – zum Beispiel wegen der Projektkosten von rund 19.000 Euro. So habe er am Aufbautag mit einer Frau gesprochen, die wenig begeistert war, erzählt Stöhr. "Die hat den künstlerischen Sinn dahinter nicht gesehen. Aber das ist okay, es muss ja nicht jeder mögen. Kunst ist am Ende immer noch subjektiv."
Doch warum haben die Schülerinnen und Schüler das Gebäude eigentlich verpackt? "Wir heben den Kirchturm damit wieder hervor", sagt Mara Illek. Ihr Gymnasium befindet sich in der Bodelschwinghstraße, nur einen Steinwurf vom Turm entfernt. "Man hat ihn jeden Tag gesehen und es war nichts besonderes mehr." Die Aktion soll nun dazu anregen, über die Rolle des Turmes in Religion und Gesellschaft nachzudenken.
Pädagogisches Ziel: Kunst nicht nur aus Schulbüchern lernen
"Wir möchten gar nicht so viel interpretieren, sondern sind gespannt auf die Reaktionen der Menschen, die sich dem Kunstwerk annähern", betont Studiendirektor Jochen Diel. Der Lehrer für Deutsch, Kunst, Religion und Informatik leitet das Seminar. Als das berühmte Künstlerpaar Christo und Jeanne-Claude im Jahr 1995 in Berlin den Reichstag verhüllten, war Diel in der Hauptstadt. Er sei damals "total geflasht" gewesen. Ein Vergleich der Aktionen liegt nahe, Diel wendet jedoch ein: "Wir wollen uns von bekannten Künstlern absetzen." Deshalb habe sein Seminar auch eine eigene Optik gewählt.
"In erster Linie geht es um das Erleben von Verpackungskunst im Tun, nicht aus dem Schulbuch heraus", sagt der Gymnasiallehrer über seine pädagogische Absicht. Seine Schülerinnen und Schüler sollten lernen, welche Vorbereitungen notwendig sind, um so ein Kunstwerk entstehen zu lassen. Und davon waren jede Menge notwendig.
Entwürfe, 3D-Modelle, Messungen: viel Arbeit mehr als ein halbes Jahr lang
Die Seminarteilnehmenden mussten Entwürfe zeichnen, 3D-Modelle anfertigen und den Kirchturm vermessen. Dazu kamen etliche Gespräche mit Behörden, Unternehmen und Institutionen. Den Gymnasiasten stellten sich Herausforderungen, mit denen sie erst gar nicht gerechnet hatten.
"Wir hatten relativ bald ein Gespräch mit zwei Veranstaltungstechnikern, die uns beraten sollten, ob wir den Blitzableiter auch einpacken können. Danach sind wir rausgegangen und hatten 20 neue Probleme, die wir lösen mussten", erzählt Bruno Stöhr. Da sei es zum Beispiel darum gegangen, wie sich das Vorhaben statisch überhaupt umsetzen lässt, ohne dass es gefährlich wird: "Da war erstmal ein Brainstorming nötig."
Die größte Hürde war jedoch, die nötigen Spendengelder zu organisieren. Zwischenzeitlich stand sogar die Überlegung im Raum, die Verhüllung zu verschieben. "Ein halbes Jahr war schon ziemlich sportlich", sagt Mara Illek über den Planungszeitraum. In vielen Fällen seien die angefragten Sponsoren aber direkt begeistert gewesen von der Idee und wollten mithelfen, berichten die Schüler. "Das hat uns die Motivation gegeben, dass wir das in der Zeit durchziehen und nicht schwächeln."
Wetterresistent und robust: Turm mit 700 Quadratmetern Kunststoff verhüllt
Unterstützung erhalten hat das Seminar nicht nur durch Geldspenden, sondern auch durch kostenfrei zur Verfügung gestellte Arbeitskraft, Geräte und Material. Den Schülerinnen und Schülern habe schließlich ein ganzes Team aus Veranstaltungsprofis, einem Kranführer, Feuerwehrleuten und Höhenkletterern geholfen, sagt Diel. Er habe nicht gezählt, es seien aber bestimmt 50 Personen im Einsatz gewesen.
Verhüllt haben die Schülerinnen und Schüler den Turm mit vier jeweils rund 30 Meter langen Bahnen Polypropylen-Gewebe – insgesamt etwa 700 Quadratmeter. Das Material werde unter anderem im Straßenbau eingesetzt, erklärt Jochen Diel. Der Vorteil dieses Kunstoffs: Er ist robust, leicht und wetterresistent. Nach Abschluss des Kunstprojekts wollen die Jugendlichen das Gewebe recyclen und aus einem Teil beispielsweise einen Vorhang für die Westfenster der Pfarrkirche machen.
Bis 22. Oktober verhüllt - und begleitet von viel Programm
Mit einem Hubsteiger und einem Kran hatte das Team das Material nach oben zum Turmdach gebracht. Dort war ein Stahlgerüst installiert worden, in das man die Vorhänge einfädeln konnte. Durch Klettband an den Seiten der Stoffbahnen verbanden die Künstlerinnen und Künstler diese miteinander. Mit roten Spanngurten verschnürten sie den Stoff. Ansonsten hätte zu viel Wind unter die Vorhänge blasen können, das hätte den Kirchturm womöglich beschädigt, erläutert der 18-jährige Christoph Jaiuea.
Die Seminarteilnehmenden sind sich einig: Am meisten Spaß machte der Tag, an dem der Turm tatsächlich verpackt wurde. "Das zu sehen, hat einem Freude bereitet", sagt Sanna Keller. Noch ist das Projekt nicht vorbei: Verhüllt bleibt der Kirchturm bis Samstag, 22. Oktober. Bis dahin gibt es dort ein ausgedehntes Begleitprogramm mit Konzerten, Vorträgen und Gottesdiensten.
Noch eine Woche lange Nachtwache
Nachts bewachen die Zwölftklässler ihr Kunstwerk derweil. Das sei ihnen von Profis dringend geraten worden, erklärt Diel. Kunstzerstörung sei in solchen Fällen wohl nicht unüblich. Mitten im Oktober ist so eine Nachtwache nicht ohne. Zwar habe man ein Lagerfeuer, um sich aufzuwärmen, erzählt Christoph Jaiuea. Im Zelt habe er aber schon ein bisschen gefroren. In Karlstadt wird für die Kunst eben noch gelitten.
Die Mädles und Jungs haben Phantasie. Weiter so!
Der Wert und die Sinnhaftigkeit von Kunst liegt sowieso immer im Auge des Betrachters.
Ich finde das Projekt trotzdem fantastisch. So geht Schule!
Interdisziplinäres Denken, Teamarbeit, praktische Anwendungen, Organisation, Kommunikation und so viel mehr!
Ich bin sicher, die Schüler haben dabei mehr gelernt als je zuvor.
Beim nächsten Mal vielleicht mit einem anders gelagerten Projekt. Die Mischung macht's.