
Seit November 2014 ist der Würzburger Arzt Josef Schuster Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. Öffentlich in Erscheinung tritt der 67-Jährige vor allem als Mahner, der vor Rassismus, Antisemitismus, Demokratie- und Menschenfeindlichkeit warnt. Darüber hinaus wünscht er sich, dass die Gesellschaft ihre Blicke mehr auf die Vielfalt jüdischen Lebens im Alltag richtet.
Im Interview spricht der Zentralratspräsident über jüdische Identität, Stereotypen und Zerrbilder in den Medien. Und was helfen könnte, der wachsenden Judenfeindlichkeit zu begegnen.
Josef Schuster: Das ist das Stereotyp vom reichen Juden. Das Vorurteil, Jüdinnen und Juden seien alle vermögend, ist völliger Blödsinn, aber es hält sich. Sie finden in der jüdischen Gesellschaft in Deutschland Menschen, die Geld haben. Und Sie finden auch Menschen, die große Geldsorgen haben. Altersarmut ist gerade unter den Zuwanderern in den jüdischen Gemeinden hierzulande ein sehr ernstes Thema.
Schuster: Das begegnet einem ständig. Sowohl in Gesprächen, da kann man aber reagieren. Es begegnet einem – mehr oder weniger subtil – in der Berichterstattung der Medien, aber auch in den Sozialen Medien sind solche antijüdischen Ressentiments sehr verbreitet.
Schuster: Zum einen werden das Judentum und jüdische Menschen häufig nur in der Opferrolle, im Kontext der Schoah, der Zeit zwischen 1933 und 1945, dargestellt. Dabei zeigt das Festjahr "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" doch, dass jüdisches Leben seit Jahrhunderten dazu gehört.
Schuster: Die Bildsprache auch renommierter Medien arbeitet leider allzu oft mit Stereotypen. Wenn es darum geht, einen Juden zu zeigen, greift man auf Archivfotos von Menschen mit Schläfenlocken zurück, Karikaturen zeigen mitunter auch Menschen mit Hakennase. Sie treffen jüdische Menschen mit Schläfenlocken nur sehr selten in Deutschland. Sie sind eher in ultraorthodoxen Kreisen in Israel zu treffen. Juden pauschal so darzustellen, entspricht einfach nicht der Realität hierzulande. In aller Regel werden Sie auf der Straße einen jüdischen nicht von einem katholischen oder evangelischen Menschen oder auch von einem Atheisten unterscheiden können.
Schuster: Kurzes Nachdenken und mehr Vielfalt bei der Fotoauswahl reichen in der Regel schon, um solche Zerrbilder zu vermeiden.

Schuster: Für mich bedeutet es, dass ich jüdische Eltern hatte, dass ich mit jüdischer Tradition aufgewachsen bin. Wie man Feiertage begeht, das hat natürlich mit Religion zu tun. In Zeitraum um Weihnachten oder im Advent findet das jüdische Lichterfest Chanukka statt. Ebenso wie es Menschen gibt, die an Heiligabend Kerzen am Baum anzünden, ohne gläubige Christen zu sein, so gibt es auch säkulare Juden, die Kerzen am Chanukka-Leuchter anzünden. Und die den Feiertag verbinden mit einem Zusammensein mit der Familie.
Schuster: Der Schriftsteller Maxim Biller sprach dem Publizisten Max Czollek ab, sich als Jude zu äußern. Czolleks Großvater war Jude. Laut jüdischem Religionsgesetz aber ist ein Jude, wer eine jüdische Mutter hat oder zum Judentum übergetreten ist. Wenn Czollek sich Jude nennt, dann ist das nach dem jüdischen Religionsgesetz nicht korrekt. Wenn er sagt, er fühlt sich jüdisch, ist das eine andere Debatte.
Schuster: Wer Jude ist, bestimmt die Halacha - das jüdische Religionsgesetz.
Schuster: Ja. In dem Moment, in dem ein Jude eine andere Religion annimmt, ist er in meinen Augen auch nicht mehr jüdisch. Das ist zum Beispiel die Problematik bei den sogenannten messianischen Juden. Eine Gruppierung, die Jesus als den Erlöser anerkennt, ansonsten aber jüdische Bräuche pflegt und am Sabbat Gottesdienste im Stil des Judentums praktiziert. Das ist für mich ein Segeln unter falscher Flagge. Die Frage, ob Jesus der Erlöser ist, ist der entscheidende Unterschied zwischen Judentum und Christentum. Wenn ich an Jesus als Erlöser glaube, was völlig legitim ist, dann habe ich die Kernbotschaft des Christentums angenommen. Und dann habe ich mich aus dem Judentum entfernt.

Schuster: Ja, ganz ehrlich, mitunter nervt es mich. Zumal diese Diskussion in meinen Augen für die nichtjüdische Öffentlichkeit eigentlich keine Relevanz hat. Das ist in erster Linie eine innerjüdische Debatte.
Schuster: Das finde ich auch gut so! So wird deutlich, dass jüdische Menschen nicht anders sind als andersgläubige Menschen. Und sie haben zum großen Teil auch ähnliche Interessen und Sorgen.

Schuster: Die jüdischen Sportfeste, die Makkabiaden, bringen Juden aus aller Welt zusammen. Bei der Jewrovision, dem größten jüdischen Gesangs- und Tanzwettbewerb in Europa, den der Zentralrat der Juden ausrichtet, geht es darum, gezielt junge Menschen aus den 105 jüdischen Gemeinden, die über das Bundesgebiet verstreut sind, zusammenzubringen. Jüdinnen und Juden als Mitglieder der Gesellschaft betreiben natürlich Aktivitäten wie Sport oder Musik auch außerhalb solcher Events.
Schuster: Ich glaube, dass es wichtig ist, jüdisches Leben in der Gegenwart, aber auch in der Vergangenheit, in den Jahrhunderten vor der Schoah, zu zeigen - so wie jetzt im Festjahr. Um deutlich zu machen, dass das Judentum in der Region, die heute Deutschland heißt, seit vielen Hundert Jahren verwurzelt ist und Politik, Kultur und Wissenschaft entscheidend mitgeprägt hat. Das wissen leider noch viel zu wenige Menschen. Oft werden Jüdinnen und Juden als etwas Exotisches betrachtet. Das befeuert leider häufig auch antisemitische Stereotype.
Schuster: Da hilft Bildung, Bildung und noch mal Bildung. Damit kann gar nicht früh genug begonnen werden. Was Judentum bedeutet, dass Jüdinnen und Juden Menschen wie Du und ich sind, kann man mit geeigneten Mitteln schon Vorschulkindern beibringen. Kein Mensch, kein Kind wird als Antisemit geboren. Irgendwo muss es bei Menschen mit antisemitischen Einstellungen zu einer Fehlprägung gekommen sein. Dem kann man frühzeitig entgegenwirken.

Schuster: Im Grunde ja. Begegnungsprogramme wie "Schalom Aleikum" oder "Meet a Jew" sind in der Tat sehr erfolgreich. Bei "Meet a Jew" gehen Jugendliche und junge Erwachsene in Schulklassen und Vereine, um dort mit Gleichaltrigen zu reden und sich über ihr Leben als Jude oder Jüdin auszutauschen. Egal ob Jude oder Nichtjude, wir haben ähnliche Sorgen und Freuden. Das hilft, Ängste abzubauen.
Schuster: Auf der anderen Seite widersprechen die Erfahrungen vieler Juden auch in Unterfranken dieser These. Gerade hier gab es vor 1933 sehr viele jüdische Gemeinden, in den Dörfern lebten Juden und Nichtjuden scheinbar friedlich miteinander. Man hat sich getroffen, der eine kannte die Gepflogenheiten des anderen. Trotzdem hat all das, als es ernst wurde, auch nicht geholfen. Im Gegenteil: Gerade weil sie dachten, man kennt sich in der Nachbarschaft, man gehöre dazu, sind viele Juden geblieben, als die Zeichen der Zeit schon dagegen sprachen. Ein tödlicher Irrtum.
Schuster: Das klingt vielleicht resignativ an. Trotzdem darf man nicht nachlassen in den Bemühungen, mehr voneinander zu wissen.
Wir leben in einer säkularen Gesellschaft, da wird niemand wegen seiner Religion anders behandelt, mehr noch, die Religion des Gegenüber ist den allermeisten schlicht egal.
Herr Schuster sagt selbst "....Zumal diese Diskussion in meinen Augen für die nichtjüdische Öffentlichkeit eigentlich keine Relevanz hat...."
So ist es.
Und ich habe in den letzten 50 Jahren in meinem Leben auch keine einzige antisemitische Tat erlebt.
Selbst die Diskussion der letzten Tage über die Einführung eines eigenen Staatsanwalts halte ich für unnötig. Der Wirrkopf, der die überzogenen Corona-Maßnahmen als Holocaust bezeichnet, weiß vermutlich gar nicht, was er da sagt. Und es war mit Sicherheit nicht antisemitisch gedacht, sondern einfach nur dumm.
Mit freundlichem Gruß, Martin Dobat