Das Knarren von morschem Holz. Spinnenweben schimmern in jeder Ecke. Durch kleine Fenster strahlt ein wenig Licht in das kleine Türmchen herein. Wer Helmut Rienecker bereits bei einer seiner Führungen hinter die Rathausuhr begleitet hat, dem kommt diese Atmosphäre bekannt vor. Tagtäglich erklimmt der 69-Jährige die Stufen zum Dachboden des Rathauses, um das Ochsenfurter Wahrzeichen am Laufen zu halten. Anlässlich des Tags des offenen Denkmals erzählt er, wie er zu dieser Tätigkeit kam und was das Besondere an der fast 500 Jahre alten Rathausuhr ist.
Über 17 Jahre ans Herz gewachsen
Zum Uhraufziehen kam Helmut Rienecker im Jahr 2007, als sein Vorgänger unerwartet verstarb und schnell ein Nachfolger gefunden werden musste. Das Angebot, diesen Job zu übernehmen, nahm der gelernte Schlosser damals schnell und leichtsinnig an - erst kurze Zeit später verstand er die Verantwortung, die hinter seinem Minijob steckt. Mittlerweile sei ihm die Uhr jedoch so sehr ans Herz gewachsen, dass er die Tätigkeit noch so lange ausführen möchte, wie es ihm körperlich möglich ist, meint Rienecker. Zwar gebe es Menschen, die ihn während seiner Abwesenheit vertreten, ein fester Nachfolger sei jedoch noch nicht in Sicht.
Helmut Rieneckers Interesse für Uhren bestand schon lange, bevor er Uhrenbetreuer wurde. So besitzt er auch privat einige besondere alte Uhren, die von Hand aufgezogen werden müssen. Doch die Technik einer so großen Uhr wie der im Rathaus sei trotzdem eine ganz andere Herausforderung, erzählt er.
Morgendliche Routine
Einmal aufgezogen, tickt die Uhr für einen weiteren Tag. Würde Rienecker also einmal verschlafen, dann stünde die Uhr still. Damit das nicht passiert, schwingt sich der gebürtige Ochsenfurter jeden Morgen auf seinen Roller, fährt zum Rathaus, steigt die 74 Stufen zu dem Uhrwerk hinauf und kurbelt. Drei Kurbeln, je 100 Umdrehungen. Dadurch zieht er die 80 bis 120 Kilogramm schweren Gewichte wieder nach oben, welche die gesamte Uhr für weitere 26 Stunden mit Energie versorgen.
Auch für kleinere Wartungsarbeiten ist Helmut Rienecker verantwortlich. So seien immer wieder Schmierungen notwendig, Teile würden sich lockern oder Hebel abbrechen, erzählt er. Für etwas größere Arbeiten, wie die abgebrochenen Hebel, ist dann glücklicherweise schnell der Ochsenfurter Schlosser zu Stelle, sodass die astronomische Uhr reibungslos weiterticken kann. Doch auch das Wetter beeinflusst das empfindliche Uhrwerk, das komplett aus Schmiedeeisen gefertigt ist. Schwankungen der Temperatur und Feuchtigkeit erfordern regelmäßige Nachjustierungen, erzählt der Uhrenaufzieher.
Seit einigen Jahren bietet Helmut Rienecker zudem Führungen hinter die Rathausuhr an. Dabei nimmt er bis zu zehn Besucherinnen und Besucher mit in den düsteren Dachstuhl und erzählt ihnen eindrucksvoll von der Historie und Funktionsweise der besonderen Uhr. Zwar kennt Rienecker die Uhr und ihre Geschichte inzwischen in- und auswendig, doch langweilig wird es ihm nie: "Ich habe zwar stets ein grobes Konzept, aber was genau ich sage, entscheide ich immer spontan", schildert er. "Durch die Zwischenfragen meiner Gäste werden immer wieder neue Aspekte besprochen, das lockert alles etwas auf." Seine Gäste reichen von Familien mit Kindern bis zu betrieblichen Ausflügen, die von überallher kommen und sich für diese einzigartige Spielwerk-Uhr interessieren.
Ein besonderes Meisterwerk der Mechanik
Es ist kurz vor zwölf Uhr. Im Inneren des Lanzentürmchens beginnen sich unzählige Zahnräder zu drehen. Dann hört man erst viermal die hohe, anschließend zwölfmal die tiefe Glocke schlagen. Von außen lässt sich gleichzeitig ein Figurenspiel beobachten. Aus den seitlichen Butzenglas-Scheiben schauen Ratsherrn hervor. Unter einem Skelett mit Stundenglas öffnet der bärtige Bürgermeister-Kopf im Takt der Glockenschläge seinen Mund.
Wo viele Ochsenfurterinnen und Ochsenfurter vermutlich täglich achtlos vorbeigehen, bleiben Auswärtige gespannt stehen. Zu Recht, denn die Ochsenfurter Rathausuhr ist europaweit etwas ganz Besonderes. Sie gehört zu den wenigen historischen Turmuhren, die noch von Hand aufgezogen werden. Helmut Rienecker weiß nur von einer weiteren Uhr in Deutschland und drei in der Schweiz. Einen seiner deshalb so seltenen Kollegen in Bern besuchte der 69-Jährige sogar einmal. Im Gegensatz zu Rienecker hatte dieser eine eigene Berufsbezeichnung: der Zytglogge-Richter.
Jahrhunderte der Präzision: Regelmäßige Überholungen der historischen Uhr
Das älteste Bauteil der Uhr ist vermutlich das Viertelstundenschlagwerk, in welches die Jahreszahl 1505 eingearbeitet ist. Es stammt noch aus der Vorgängeruhr, welche der berühmte Nürnberger Uhrmacher Johann Georg Heuß schuf. Die Uhr, wie sie noch heute zu bestaunen ist, wurde dann 1560 in Auftrag gegeben, erzählt Rienecker. Dabei wurden neben dem Viertelstundenschlagwerk auch andere Teile wiederverwendet, da Eisen kostbar war.
Auch der Bürgermeister-Kopf stammt von einer Berühmtheit. Erst vor wenigen Jahren wurde nachgewiesen, dass ihn Tilman Riemenschneider zu Beginn des 16. Jahrhunderts geschnitzt hat. Inzwischen grüßt eine Kopie vom Lanzentürmchen, das Original befindet sich im Museum für Franken in Würzburg.
Der erste größere Umbau fand dann 1801 statt, indem die Waaguhr auf ein Pendel umgerüstet und ein zweiter Zeiger für die Minutenzahl angebracht wurde. 1907, ein weiteres Jahrhundert später, wurde das Uhrwerk erneut überholt, indem eines der Steingewichte durch Gusseisen ersetzt und die Hanfseile gegen Drahtseile ausgetauscht wurden. Diesen Rhythmus beibehaltend, wurde auch 2003 eine Generalüberholung vorgenommen. 2028 soll die gesamte Uhr im Rahmen der Rathausrenovierung nochmals aufgehübscht werden.