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Würzburg
Würzburger Politik-Expertin zum Krieg: Welche Folgen die Zeitenwende für uns alle hat und was jetzt zu tun ist
Der russische Angriffskrieg fordert Europa. Die Politikwissenschaftlerin Gisela Müller-Brandeck-Bocquet im Interview über die Stärke der Ukraine - und sozialen Sprengstoff.
Warnt vor einer gesellschaftlichen Zuspitzung durch den Krieg in der Ukraine auch bei uns:  Politikwissenschaftlerin Prof. em. Gisela Müller-Brandeck-Bocquet.
Foto: Theresa Müller (Archivbild) | Warnt vor einer gesellschaftlichen Zuspitzung durch den Krieg in der Ukraine auch bei uns:  Politikwissenschaftlerin Prof. em. Gisela Müller-Brandeck-Bocquet.
Andreas Jungbauer
 |  aktualisiert: 15.07.2024 10:21 Uhr

Der russische Angriffskrieg in der Ukraine verändert Europa und die Weltlage, Ausgang offen. Und die "Zeitenwende" hat Folgen für den Alltag der Menschen auch in Deutschland. Drohen soziale Verwerfungen? Wo sind die Auswege? Die Politikwissenschaftlerin Prof. em. Gisela Müller-Brandeck-Bocquet ist am Donnerstag, 24. November, zu Gast beim "Kellergespräch" von Main-Post und Juristen-Alumni der Universität Würzburg zu diesem Thema.

Im Interview vorab erklärt die Europa-Expertin, warum sie auch die Chance auf positive Veränderungen sieht.  

Frage: Fast neun Monate nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine: Hatten Sie den Kriegsverlauf so erwartet?

Prof. Gisela Müller-Brandeck-Bocquet: Nein. Ich glaube, das konnte kaum jemand. Der starke Widerstand der ukrainischen Armee war nicht vorherzusehen – natürlich unterstützt durch mittlerweile substanzielle Waffenlieferungen aus westlichen Ländern. Es hat mich erstaunt, wie schwach die russische Armee den Ukrainern gegenübersteht.

Ist das eher die Schwäche Russlands oder Stärke der Ukraine?

Müller-Brandeck-Bocquet: Das hängt ja voneinander ab. Bemerkenswert ist, wie geschlossen der Westen, voran die NATO, zur Ukraine stand und steht. Man hat eine kluge Linie gewählt: Mit Waffenlieferungen und auf andere Weise helfen, wo man kann – aber sich nicht in diesen Konflikt hineinziehen lassen.

Darin ist sich auch Europa einig. Hat dieser Krieg die EU zusammengeschweißt? 

Müller-Brandeck-Bocquet: Der Krieg hat viele Effekte, die EU und Deutschland wurden dadurch in einen völlig anderen Kontext katapultiert. Das ist eine echte Zeitenwende, die am Ende auch positive Folgen haben kann. Denken Sie an die Abhängigkeiten, die man jetzt verringern will – von fossilen Energieträgern aus Russland oder industrie- und technologiepolitisch von China. In der EU wird das als "strategische Souveränität" diskutiert.

Aber mehr Unabhängigkeit hat ihren Preis. Ist das westliche Wohlstandsmodell zu Ende?

Müller-Brandeck-Bocquet: Ich würde nicht vom "Ende" sprechen, aber es wird mittel- und längerfristig zu Verschiebungen kommen. Wenn wir wieder mehr Medikamente in der EU produzieren wollen, wird das natürlich teurer, als wenn wir sie in China oder Indien herstellen lassen. Da muss man wissen, was man will. Ich glaube, ans Ende kommt gerade die extreme internationale Arbeitsteilung mit China als billiger Werkbank der Welt. 

Die Verteuerung des Lebens birgt sozialen Sprengstoff, auch bei uns...

Müller-Brandeck-Bocquet: Diese Zeitenwende wird Veränderungen mit sich bringen, die auch die soziale Verteilung im Land berühren. Wenn die Bundesrepublik, wie vom Kanzler angekündigt, nicht nur das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr ausgibt, sondern dauerhaft die Verteidigungsausgaben erhöht – dann muss es Umschichtungen im Bundeshaushalt geben. Das Geld wird dann an anderer Stelle fehlen. Ich weiß nicht, ob den Menschen wirklich schon klar ist, was das bedeutet. Die Frage ist: Wo wird an anderer Stelle gespart?

An der Inflation spüren die Menschen bereits deutlich, was eine veränderte Weltlage bedeuten kann. Haben Sie Angst vor einer gesellschaftlichen Zuspitzung bei uns, befeuert von Demokratiefeinden?

Müller-Brandeck-Bocquet: Natürlich besteht die Gefahr, dass die Stimmung von extremen Kräften angeheizt wird. Eine Eskalation sehe ich derzeit aber noch nicht. Die Bundesregierung hat viel unternommen, um soziale Härten abzufedern – gerade für Bürgerinnen und Bürger mit geringen Einkommen. Ich meine, nach den Corona-Erfahrungen müsste die Bevölkerung doch sensibilisiert sein und erkennen, dass Wutbürgertum und Verschwörungserzählungen nicht weiterführen. Ich hoffe, dass die Leute etwas resilienter gegenüber solchen Instrumentalisierungen der platten Art geworden sind.

Könnte unsere Solidarität mit der Ukraine bröckeln, wenn Menschen zunehmend spüren, wie der Krieg auch auf ihre Kosten geht?

Müller-Brandeck-Bocquet: Das wird sicher so sein. Je länger der Krieg dauert, desto stärker werden Ermüdungserscheinungen auftreten.  Die Folgen kommen zeitversetzt bei den Leuten an, damit wird die Solidaritätsbereitschaft sinken. Insofern ist es wichtig, dass dieser Krieg endet und sich nicht über Jahre hinzieht.

Über zwei Jahrzehnte hat sie hier, am Institut für Politikwissenschaft der Uni Würzburg, den Studierenden vor allem die internationale Politik nahe gebracht: Prof. em. Gisela Müller-Brandeck-Bocquet.
Foto: Theresa Müller (Archivbild) | Über zwei Jahrzehnte hat sie hier, am Institut für Politikwissenschaft der Uni Würzburg, den Studierenden vor allem die internationale Politik nahe gebracht: Prof. em. Gisela Müller-Brandeck-Bocquet.
Und in der Politik? Schwindet der Zusammenhalt im Westen? 

Müller-Brandeck-Bocquet: Zunächst ist der Ausgang der US-Wahlen ein sehr gutes Zeichen. Hätten die Republikaner den erhofften Durchmarsch geschafft, hätten sie vermutlich Biden den Geldhahn für die Ukraine zugedreht. Und auch in der EU sehe ich aktuell noch keine Gefahr, dass man sich aus der Unterstützung und der Solidarität mit der Ukraine zurückzieht. Die Kommission hat erst neulich sehr hohe Finanzbeiträge zugesagt. Aber ja: Je länger der Krieg dauert, desto mehr Abnutzungs- und Ermüdungserscheinungen gibt es.

Keine Sorge wegen der deutsch-französischen Verstimmungen?

Müller-Brandeck-Bocquet: Also ich beobachte dieses Verhältnis seit so langer Zeit, da können mich die momentanen Anspannungen nicht wirklich beunruhigen. Scholz hat einiges gemacht, das schlecht in Frankreich angekommen ist – zuletzt sein China-Besuch, den er leider erst hinterher erklärt hat. Der Kanzler ist da schon sehr schweigsam. Umgekehrt steht Macron im eigenen Land das Wasser bis zum Hals. Ich würde diese Differenzen nicht überinterpretieren. 

Kommt die EU als Friedensvermittler in diesem Krieg überhaupt noch in Frage oder ist sie zu sehr Partei?

Müller-Brandeck-Bocquet: Das halte ich für ausgeschlossen, denn mit all ihrer Unterstützung ist die EU zumindest indirekt zu sehr in diesen Krieg involviert. Und indem man der Ukraine die Perspektive eines EU-Beitritts eröffnet hat, kann man nicht mehr neutraler Makler sein. Diese Rolle sehe ich eher bei externen Mächten, allen voran China.

Kurz nach Kriegsausbruch dachten Sie noch an eine Lösung, bei der Putin sein Gesicht wahren könnte. Bleiben Sie bei dieser Option?

Müller-Brandeck-Bocquet: Nein, das hat sich durch den Verlauf und die Dauer des Krieges völlig geändert. Mit dem, was passiert ist, und vor allem mit den Kriegsverbrechen durch russische Soldaten wurde der Rubikon überschritten. Insofern wird es keine gesichtswahrende Lösung mehr geben können. Und es wird auch keine Lösung mit Putin geben. Das ist ja das Dilemma. Man wird übrigens nach einem Kriegsende im Umgang mit Russland nicht zur Tagesordnung übergehen können. Dafür ist zu viel passiert, das Russland für eine gewisse Zeit in eine Parier-Situation bringen wird. Denken Sie an Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg.

Würzburger "Kellergespräch" zu Krieg und Zeitenwende

Gisela Müller-Brandeck-Bocquet war über 20 Jahre lang Politik-Professorin an der Uni Würzburg und bis April 2022 Inhaberin des Lehrstuhls für Internationale Beziehungen und Europaforschung. Am Donnerstag, 24. November, kommt sie zu den "Würzburger Kellergesprächen". Das Thema: der russische Krieg in der Ukraine, die Zeitenwende und die Folgen für Europa und Deutschland.
Die Veranstaltung aus der gemeinsamen Reihe von Main-Post und Juristen-Alumni der Universität beginnt um 18 Uhr im Hörsaal 1 der Alten Universität, Domerschulstraße 16. Der Eintritt ist frei. Teilnehmerinnen und Teilnehmer können mitdiskutieren, es moderiert Main-Post-Redakteur Andreas Jungbauer.
aj
 
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