Der russische Angriffskrieg in der Ukraine verändert Europa und die Weltlage, Ausgang offen. Und die "Zeitenwende" hat Folgen für den Alltag der Menschen auch in Deutschland. Drohen soziale Verwerfungen? Wo sind die Auswege? Die Politikwissenschaftlerin Prof. em. Gisela Müller-Brandeck-Bocquet ist am Donnerstag, 24. November, zu Gast beim "Kellergespräch" von Main-Post und Juristen-Alumni der Universität Würzburg zu diesem Thema.
Im Interview vorab erklärt die Europa-Expertin, warum sie auch die Chance auf positive Veränderungen sieht.
Prof. Gisela Müller-Brandeck-Bocquet: Nein. Ich glaube, das konnte kaum jemand. Der starke Widerstand der ukrainischen Armee war nicht vorherzusehen – natürlich unterstützt durch mittlerweile substanzielle Waffenlieferungen aus westlichen Ländern. Es hat mich erstaunt, wie schwach die russische Armee den Ukrainern gegenübersteht.
Müller-Brandeck-Bocquet: Das hängt ja voneinander ab. Bemerkenswert ist, wie geschlossen der Westen, voran die NATO, zur Ukraine stand und steht. Man hat eine kluge Linie gewählt: Mit Waffenlieferungen und auf andere Weise helfen, wo man kann – aber sich nicht in diesen Konflikt hineinziehen lassen.
Müller-Brandeck-Bocquet: Der Krieg hat viele Effekte, die EU und Deutschland wurden dadurch in einen völlig anderen Kontext katapultiert. Das ist eine echte Zeitenwende, die am Ende auch positive Folgen haben kann. Denken Sie an die Abhängigkeiten, die man jetzt verringern will – von fossilen Energieträgern aus Russland oder industrie- und technologiepolitisch von China. In der EU wird das als "strategische Souveränität" diskutiert.
Müller-Brandeck-Bocquet: Ich würde nicht vom "Ende" sprechen, aber es wird mittel- und längerfristig zu Verschiebungen kommen. Wenn wir wieder mehr Medikamente in der EU produzieren wollen, wird das natürlich teurer, als wenn wir sie in China oder Indien herstellen lassen. Da muss man wissen, was man will. Ich glaube, ans Ende kommt gerade die extreme internationale Arbeitsteilung mit China als billiger Werkbank der Welt.
Müller-Brandeck-Bocquet: Diese Zeitenwende wird Veränderungen mit sich bringen, die auch die soziale Verteilung im Land berühren. Wenn die Bundesrepublik, wie vom Kanzler angekündigt, nicht nur das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr ausgibt, sondern dauerhaft die Verteidigungsausgaben erhöht – dann muss es Umschichtungen im Bundeshaushalt geben. Das Geld wird dann an anderer Stelle fehlen. Ich weiß nicht, ob den Menschen wirklich schon klar ist, was das bedeutet. Die Frage ist: Wo wird an anderer Stelle gespart?
Müller-Brandeck-Bocquet: Natürlich besteht die Gefahr, dass die Stimmung von extremen Kräften angeheizt wird. Eine Eskalation sehe ich derzeit aber noch nicht. Die Bundesregierung hat viel unternommen, um soziale Härten abzufedern – gerade für Bürgerinnen und Bürger mit geringen Einkommen. Ich meine, nach den Corona-Erfahrungen müsste die Bevölkerung doch sensibilisiert sein und erkennen, dass Wutbürgertum und Verschwörungserzählungen nicht weiterführen. Ich hoffe, dass die Leute etwas resilienter gegenüber solchen Instrumentalisierungen der platten Art geworden sind.
Müller-Brandeck-Bocquet: Das wird sicher so sein. Je länger der Krieg dauert, desto stärker werden Ermüdungserscheinungen auftreten. Die Folgen kommen zeitversetzt bei den Leuten an, damit wird die Solidaritätsbereitschaft sinken. Insofern ist es wichtig, dass dieser Krieg endet und sich nicht über Jahre hinzieht.
Müller-Brandeck-Bocquet: Zunächst ist der Ausgang der US-Wahlen ein sehr gutes Zeichen. Hätten die Republikaner den erhofften Durchmarsch geschafft, hätten sie vermutlich Biden den Geldhahn für die Ukraine zugedreht. Und auch in der EU sehe ich aktuell noch keine Gefahr, dass man sich aus der Unterstützung und der Solidarität mit der Ukraine zurückzieht. Die Kommission hat erst neulich sehr hohe Finanzbeiträge zugesagt. Aber ja: Je länger der Krieg dauert, desto mehr Abnutzungs- und Ermüdungserscheinungen gibt es.
Müller-Brandeck-Bocquet: Also ich beobachte dieses Verhältnis seit so langer Zeit, da können mich die momentanen Anspannungen nicht wirklich beunruhigen. Scholz hat einiges gemacht, das schlecht in Frankreich angekommen ist – zuletzt sein China-Besuch, den er leider erst hinterher erklärt hat. Der Kanzler ist da schon sehr schweigsam. Umgekehrt steht Macron im eigenen Land das Wasser bis zum Hals. Ich würde diese Differenzen nicht überinterpretieren.
Müller-Brandeck-Bocquet: Das halte ich für ausgeschlossen, denn mit all ihrer Unterstützung ist die EU zumindest indirekt zu sehr in diesen Krieg involviert. Und indem man der Ukraine die Perspektive eines EU-Beitritts eröffnet hat, kann man nicht mehr neutraler Makler sein. Diese Rolle sehe ich eher bei externen Mächten, allen voran China.
Müller-Brandeck-Bocquet: Nein, das hat sich durch den Verlauf und die Dauer des Krieges völlig geändert. Mit dem, was passiert ist, und vor allem mit den Kriegsverbrechen durch russische Soldaten wurde der Rubikon überschritten. Insofern wird es keine gesichtswahrende Lösung mehr geben können. Und es wird auch keine Lösung mit Putin geben. Das ist ja das Dilemma. Man wird übrigens nach einem Kriegsende im Umgang mit Russland nicht zur Tagesordnung übergehen können. Dafür ist zu viel passiert, das Russland für eine gewisse Zeit in eine Parier-Situation bringen wird. Denken Sie an Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg.