"Hier ist meine Handynummer", sagt Heike Spitznagel und lächelt. "Wenn Sie sich verfahren, lotse ich Sie." Sie weiß, wie schwer das idyllische Areal einige Kilometer außerhalb von Güntersleben zu finden ist, dem ihr Vater Rainer Spitznagel jetzt ein literarisches Denkmal gesetzt hat. Doch die Hilfeleistung ist nicht nötig. Nach sechsmaligem Abbiegen auf betonierten und asphaltierten Feldwegen sieht der Besucher mehrere kleine Häuschen inmitten eingezäunter Grundstücke, teilweise am Waldrand, teilweise unter Bäumen versteckt.
"Meine Kindheit und Jugend am Leitensee. Wie eine Freizeitsiedlung entstand" heißt das kürzlich erschienene Buch von Rainer Spitznagel, in dem diese Häuschen die Hauptrolle spielen. Der 90-Jährige lebt heute in Leinach, doch die ersten 16 Jahre verbrachte er werktags in der Steinheilstraße in Grombühl und am Wochenende und in den Ferien an jenem Leitensee. Wobei "See" eine gnadenlose Übertreibung ist, denn der kleine Tümpel leidet unter dem sinkenden Grundwasserspiegel und führt zum Beispiel oft überhaupt kein Wasser. Nach der Zerstörung des Wohnhauses in Grombühl am 16. März 1945 blieb die Siedlung dann sogar für mehrere Jahre der Hauptwohnort von Rainer Spitznagel und seinen Angehörigen.
Heute tut es Heike Spitznagel ihrem Vater gleich: Mit ihrem Mann bewohnt sie in den Ferien – auch im Winter – das inzwischen mit Solaranlage, Sat-Schüssel und zwei Schlafräumen wohnlich ausgestatte und mehrfach umgebaute Häuschen der Familie. Gelegentlich kommen auch die Kinder zu Besuch.
"Jeden Sommer veranstalten alle Besitzer von Anwesen am Leitensee ein großes Fest", sagt sie bei einem Rundgang. Gerade sind alle Häuschen verrammelt, nur das Spitznagelsche nicht. Im gemütlichen Wohnraum steht ein Kachelofen, in dem Holzscheite flackern. Ein Relikt aus früheren Zeiten ist geblieben: das Plumpsklo, das regelmäßig entleert werden muss.
Die Geschichte der Feriensiedlung reicht bis 1931 zurück, als ein Onkel von Rainer Spitznagel dort mehrere vor Jahren aufgegebene Äcker und wildbewachsenes Ödland kaufte. Die Eltern Richard und Betty Spitznagel – auch sie in der Gewerkschaftsbewegung aktiv – taten es ihm kurz danach gleich und bald entstanden, noch sehr provisorisch, die ersten Unterkünfte – zunächst keine Häuser, sondern eher Hüttchen aus Brettern und Dachpappe. Schließlich wurde der Leitensee zur zeitweiligen Heimstätte von vier Familien.
Das abgeschottete Stückchen Paradies war damals noch nicht mit dem Auto zu erreichen. Wer aus Würzburg zum Leitensee wollte, musste nach der Bahnfahrt bis zum Bahnhof Erlabrunn eine fast einstündige Wanderung bergauf absolvieren; wem das Geld für die Bahn fehlte, der hatte sogar einen zweiständigen Fußmarsch zurückgelegt.
"Fehlende stabile Zufahrten ziehen sich wie ein roter Faden durch meine Erinnerungen", schreibt Rainer Spitznagel. "Ursprünglich reihte sich Schlagloch an Schlagloch, Rille an Rille. Nach Regengüssen bildeten sich richtige kleine Tümpel, in denen das Wasser kaum glaubhafte 40 Zentimeter hoch stand."
Für die Kinder, die sich an Wochenenden und in den Ferien am Leitensee tummelten, erwiesen sich gerade diese Tümpel im Hochsommer freilich als überaus attraktiv. "Erst einmal wateten wir durch die braune Brühe, wobei sich der lehmige Untergrund, wie Mahlgut durch einen Fleischwolf, durch die Zehen presste", erinnert sich Spitznagel. "Das war ein herrliches Gefühl!" Als nächstes spritzten sich die Buben und Mädchen gegenseitig nass und planschten in den schlammigen Riesenpfützen.
Danach folgte der absolute Höhepunkt: "Ein Sprung in die Nässe, das Hinterteil voraus, als Arschbombe bekannt. Nach allen Seiten spritzte die Lehmsoße."
Heute führen nicht nur befahrbare Wege zum versteckten Idyll am Leitensee, auch auf dem ausgedehnten Spitznagel'schen Grundstück kommt man bei jedem Wetter trockenen Fußes voran. Die Wege aus großen Steinen hat Rainer Spitznagel nach seiner Berufstätigkeit selbst angelegt, erläutert die Tochter. Einer führt an einem neu verputzten Häuschen mit der Aufschrift "WC - Wald Closett" vorbei. "Mein Vater liebt solche Spielereien mit Buchstaben", sagt die Tochter.
Das Gelände wurde zum geheimen Treffpunkt für Nazi-Gegner
Kurz nach dem Beginn der Leitensee-Besiedlung begann das Dritte Reich und es stellte sich heraus, welch glänzende Idee der Grunderwerb gewesen war. Das Gelände war zwar sehr abgelegen, aber gerade deshalb sicher vor Zugriffen. Die Familie Spitznagel und andere Nazi-Gegner hatten einen Ort, an dem sie offen sprechen und Informationen austauschen konnten, ohne Angst vor Bespitzelung zu haben.
"Viele Bekannte aus Naturfreunde- und Gewerkschaftsbewegung nutzten die Begegnungsstätte, die sich abseits des gelenkten und kontrollierten Nazialltags bot", schreibt Rainer Spitznagel, der später selbst jahrzehntelang hauptamtlicher Geschäftsführer der Gewerkschaft ÖTV in Würzburg und Nürnberg war.
Ab 1936 startete dann der Aus- und Umbau einiger Hütten zu richtigen kleinen Häusern. Kurz nach Kriegsbeginn beschafften Rainer Spitznagels Eltern noch einen Küchenherd mit Backröhre, so dass auch im Winter geheizt werden konnte. Schließlich kam ausrangiertes Mobiliar der Grombühler Nachbarschaft hinzu und ein vom Vater eigenhändig gezimmertes stabiles Doppelbett – fertig!
Zur abendlichen Beleuchtung in den Schafräumen dienten Kerzen. In den Wohnräumen hingen oder standen Petroleumlampen, die günstig in Güntersleben erworben werden konnten, wo erst wenige Jahre zuvor elektrische Leitungen verlegt worden waren.
Für die Kühlung der Lebensmittel sorgte die Natur. Die Siedler hatten sich Steinguttöpfe besorgt, in die Erde versenkt und mit einem alten Kochtopfdeckel versehen. Bald wurden Obstbäume gepflanzt und Gemüsebeete angelegt. Regenwasser wurde in einer selbstgebauten unterirdischen Zisterne gesammelt. Trinkwasser musste dagegen mühsam aus Güntersleben oder Veitshöchheim herbeigeschleppt werden.
Im Winter kam das Duschwasser aus der Gießkanne
Eine Nachfolgerin dieser ersten Zisterne tut auch Jahrzehnte später noch problemlos ihren Dienst. Doch eine Einschränkung gibt es, sagt Heike Spitznagel, als sie die ebenfalls selbstgebaute Dusche in ihrem Häuschen vorführt. "Im Winter ist das Wasser eiskalt", gibt sie zu. "Da duschen wir uns lieber mit Wasser aus einer Gießkanne, die in der Nacht auf dem Kachelofen gestanden hat."
Am Abend des 16. März 1945 sah Rainer Spiznagel zusammen mit seiner Familie, wie Würzburg in Flammen aufging. "Die armen Menschen", sagte seine Mutter einige Male, und dann mit wütender Stimme "Das haben wir den Nazis zu verdanken!". Sie wusste, wer den Krieg begonnen hatte.
Am Ostersonntag, 1. April 1945, näherten sich die Amerikaner. Rainer Spitznagel und einige andere Kinder hatten sich bereit erklärt, mit dem Handwagen Wasser von der spärlichen Quelle am Ortsausgang von Güntersleben zu holen. Was damals passierte, kann Rainer Spitznagel nie vergessen: "Gerade fertig mit dem Abfüllen und zum Aufbruch bereit, hörten wir starke Motorengeräusche in der Luft, und schon brausten zwei tieffliegende Jagdflugzeuge über uns hinweg, aus allen Rohren ihrer Maschinengewehre und -kanonen schießend."
Die Schützen hatten es auf eine Gruppe von deutschen Soldaten und russischen Kriegsgefangenen abgesehen, die auf der Höhe des Kreuzes an der Thüngersheimer Straße Rast machten. Es gab Tote und Verletzte. "Wären wir zehn Minuten früher mit dem Wasserfassen fertig geworden, hätten wir genau diese Stelle passiert", heißt es in Rainer Spitznagels Buch.
Nach Kriegsende wurde die Siedlung zum Hauptwohnsitz
Nach der Zerstörung Würzburgs wurde der Leitensee Hauptwohnsitz für mehrere Familien. Nun begann ein Leben, das sich wesentlich von den vorherigen Wochenend- oder Ferienaufenthalten unterschied. Die Leitensee-Gemeinschaft musste jahrelang auf den Komfort einer Stadtwohnung mit Strom-, Gas- und Wasserversorgung verzichten und es gab keine Straßenbahn quasi vor der Haustür wie in Grombühl.
Arbeiten in der Stadt bedeutete zweierlei: zum einen den langen Fußmarsch nach Würzburg morgens und abends und zum anderen die harte körperliche Arbeit des Schutträumens bei Wind und Wetter. Mit der Wiederinbetriebnahme der Eisenbahnstrecke längs des Mains, zunächst zwischen Würzburg und Lohr am 25. Juni 1945, verkürzte sich der Weg nach Würzburg dann erheblich.
Der Winter 1946/47 war der strengste seit Menschengedenken. Im Schlafraum der Familie Spitznagel zogen sich die Eisblumen bis zur Fensteroberkante. Der Brennholzbedarf hatte sich im Vergleich zu früher, als das Häuschen unter der Woche leer stand, vervielfacht. Im umgebenden Wald gab es immer noch Leseholz, aber die Leitensee-Bewohner waren nicht die einzigen, die es warm und gemütlich haben wollten.
Rund um den See war die Ernährung nach dem Krieg besser als anderswo
Auch die Ernährung war damals ein riesiges Problem. Im Hungerjahr 1947 zog man vom Leitensee nach Güntersleben, um dort um Kartoffeln zu betteln. Allerdings war die Versorgung mit Lebensmitteln rund um den See besser als die vieler anderer, da man auf Beeren, Salat und Gemüse aus dem Garten zurückgreifen konnte.
Nach der Währungsreform 1948 besserten sich die Verhältnisse und der Wiederaufbau Würzburgs nahm Fahrt auf. Bald konnten die ersten Familien wegziehen. Rainer Spitznagel und sein Bruder Kurt kehrten in die Stadt zurück, wo sie zunächst eine vorübergehende Bleibe im Jugendwohnheim der Arbeiterwohlfahrt an der Grombühlbrücke fanden. 1953 folgte die Mutter und bezog mit Rainer eine kleine Dachwohnung in der Scharnhorststraße. Das Häuschen am Leitensee wurde wieder zum Wochenend- und Urlaubsdomizil, was es bis zum heutigen Tag geblieben ist.
Rainer Spitznagels Buch "Meine Kindheit und Jugend am Leitensee. Wie eine Freizeitsiedlung entstand" hat 144 Seiten und zahlreiche Abbildungen. Es ist für 10 Euro bei Heike Spitznagel, Tel. (09365) 888307 erhältlich. Am 29. September bietet die Vhs Güntersleben eine Exkursion "Die Leitensee-Häuser" an.