
Wenn der 16-jährige Rainer Spitznagel aus dem Fenster seines Büros im Studentenhaus am Sanderrasen blickte, sah er im Hof etwas, das so gar nicht zu der Trümmerwüste passte, durch die er gerade gestolpert war: blank polierte deutschen Oberklasse-Autos. Die waren ihren Eigentümern weggenommen worden und dienten jetzt den amerikanischen Besatzern.
Spitznagels Familie war in Grombühl ausgebombt worden und lebte in einer Hütte am Leitensee bei Güntersleben. Mit dem Zug fuhr der 16-Jährige täglich von Veitshöchheim zum Würzburger Hauptbahnhof, kletterte über meterhohe Schuttberge und arbeitete dann als jüngster Angestellter der improvisierten Stadtverwaltung.
Er saß im Vorzimmer des von den Amerikanern eingesetzten Oberbürgermeisters Gustav Pinkenburg und war froh, eine Beschäftigung gefunden zu haben – "noch dazu in geheizten Büroräumen". So etwas war 1945 in der am 16. März fast gänzlich zerstörten Stadt eine Seltenheit.
Eine kleine Automobilausstellung am Würzburger Hauptbahnhof
Im Hof befand sich eine "kleine Automobilausstellung", schrieb Spitznagel, der später lange Zeit Geschäftsführer der Gewerkschaft ÖTV in Würzburg und Nürnberg war und im Oktober 2019 im Alter von 90 Jahren starb, in einem Text über jene Zeit. "Alle führenden deutschen Hersteller von Oberklassefahrzeugen hatten sich dort zu einem unfreiwilligen Stelldichein ihrer Produkte eingefunden. Da standen Opel Admiral und Opel Kapitän neben einem Audi 1, der große offene Mercedes leistete einem Wanderer Gesellschaft, ein Horch konkurrierte mit mehreren BMW-Touren- und Sportwagen. Alle bei deutschen Besitzern beschlagnahmt und im Dienste der US-Armee."
Drei Tage hatte der verlustreiche Kampf um die Ruinenstadt Anfang April 1945 gedauert. Obwohl die Nazis alle Mainbrücken in die Luft jagten, dauerte es nur wenige Stunden, bis die US-Army die Löwenbrücke provisorisch repariert hatte; hier rollte nun der Nachschub.
Noch am 4. April, zwei Tage vor dem Ende der Kämpfe, richteten die Amerikaner im stehengebliebenen Haus der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt am Ludwigkai 4 die Militärregierung für Würzburg und Unterfranken ein. Kurz danach ernannten sie den 58-jährigen Versicherungsagenten Gustav Pinkenburg zum Oberbürgermeister.
Einige Wochen später zogen der für die Stadt Würzburg zuständige Teil der Militärregierung und Teile der Stadtverwaltung vom Ludwigkai in das Studentenhaus um. Seit April 1945 hatten im ehemaligen "Dr.-Goebbels-Haus" befreite Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene, die sogenannten DPs ("Displaced Persons"), gelebt, für die inzwischen eine andere Unterkunft gefunden worden war, wenn sie nicht bereits in ihre Heimat zurückgekehrt waren.
Die Stadtverwaltung saß im Studentenhaus
Das Studentenhaus mit Speise-, Lese- und Studiersälen war 1929 errichtet und 1937 erweitert worden. Den Namen „Dr.-Goebbels-Haus“ trug es seit 1937, weil der Propagandaminister der Nazis im Wintersemester 1918/19 an der Universität Würzburg Germanistik und Geschichte studiert und in der heutigen Eichendorffstraße gewohnt hatte.

Spitznagel erlebte im Studentenhaus, das auch Stadthaus genannt wurde, "eine leidlich funktionierende Ämterleitung, freilich gekennzeichnet von Improvisation, mitunter auch von Hilf- und Ratlosigkeit". Immerhin existierten moderne Schreibmaschinen, die ausgelagert gewesen waren, und ein funktionierendes Telefonnetz. "Es gab aber auch einen Geist, der alle, die dort mit zerschlissenem Schuhwerk, abgetragener Kleidung, hungrigen Mägen ihren Dienst taten, zu beseelen schien", schrieb Spitznagel, der aus einer Familie von Nazigegnern stammte. "Der unbändige Wille, in einer besseren Zeit fortzuleben, diese Zeit zu gestalten."
Die städtischen Büros befanden sich im ersten Stock im Südflügel des hufeisenförmigen Hauses, darunter auch die Räume des Oberbürgermeisters und des Dolmetschers – Pinkenburg sprach kein Englisch – sowie die Kfz-Bereitschaft. Außerdem das Zimmer, in dem Spitznagel mit einem älteren Kollegen saß. Darüber hatte sich die Polizeidirektion niedergelassen, im zum Hof hin offenen Erdgeschoss die Verkehrspolizei und das Überfallkommando mit seinen Fahrzeugen.
Im Nordflügel residierten die für Stadt und Landkreis Würzburg zuständigen Besatzer, die das tägliche Leben, zum Beispiel das Verlassen Würzburgs, strengstens kontrollierten. Für Reisen galt zunächst ein vollständiges Verbot, erinnerte sich Spitznagel, doch wurden Fahrten über die Stadtgrenze dann in immer größeren Radien erlaubt – "freilich nur mit einem US-Dokument, dem Passierschein". Den auszustellen gehörte zu Spitznagels Aufgaben; wirklich wegfahren durfte man freilich erst, wenn der Antrag von den auf der anderen Seite des Hauses residierenden Besatzern genehmigt war, wobei strenge Maßstäbe angelegt wurden.
Viele Menschen wollten mit dem Oberbürgermeister direkt sprechen
Spitznagels Schreibtisch stand in einem Raum, an dessen Tür ein Schild mit der Aufschrift "Anmeldung Oberbürgermeister" hing. Sein Kollege entschied, wer zu OB Pinkenburg vorgelassen wurde. Spitznagel: "Das war eine recht undankbare Aufgabe angesichts der Vielzahl von Personen, die unbedingt mit dem Mann an der Stadtspitze, und sonst niemand, ihre Probleme glaubten besprechen zu müssen."
Es herrschte hektische Betriebsamkeit: "Bittsteller jeder Art, Bedürftige, durchreisende Politiker, Schauspieler, Geistliche, Schausteller, politisch Verfolgte und aus dem KZ Befreite, Geschäftsleute, Sportfunktionäre reichten sich die Türklinken abwechselnd", schrieb Spitznagel.
Kein Wunder, dass sich in den beengten Räumen mit zusammengedrängtem Personal alles andere bot als das Bild einer behäbigen Administration. Ständig stellten sich neue Probleme, pausenlos waren Entscheidungen zu treffen. "Da wurde im Flur heftig diskutiert und gestritten", erinnerte sich Rainer Spitznagel, "in den Büros wurde mit Leidenschaft telefoniert."
Die Stadtverwaltung griff auch auf ehemalige NSDAP-Mitglieder zurück
Da viele in der bunt zusammengewürfelten Stadtverwaltung, wie deren Leiter Pinkenburg selbst, keine oder wenig Erfahrung mit administrativen Abläufen hatten, griff man ohne Wissen der Besatzer auf Kräfte zurück, die zwar den Nationalsozialisten gedient hatten und deshalb mit Berufsverbot belegt waren, die aber wenigstens wussten, was zu tun war. Ein solcher ehemaliger Nazi, der eine Schlüsselposition unter dem NSDAP-Oberbürgermeister Theo Memmel innegehabt hatte, wohnte im Frauenland.

Einmal wöchentlich musste Spitznagel dem suspendierten Amtmann Akten aus dem Pinkenburg-Büro bringen und nach einiger Zeit, versehen mit den richtigen Umläufen und rechtlichen Anmerkungen, wieder abholen. Spitznagel: "Ich bin heute noch davon überzeugt, dass die Amerikaner Pinkenburg sofort entlassen hätten, wäre ihnen die heimliche Beschäftigung eines Altnazis zu Ohren gekommen." Später wurde der geheime Mitarbeiter von einer Spruchkammer als "Mitläufer" eingestuft und wieder in der Stadtverwaltung angestellt.
Im Erdgeschoss des Studentenhauses war in der ehemaligen Mensa die Stadtküche untergebracht, die für die in Notbehausungen lebenden Würzburger auch Ausgabestellen in mehreren Stadtteilen unterhielt. Spitznagel: "Von unserem OB-Anmeldezimmer führte ein fast geheimer Gang hinunter, wo man direkt im Küchenbereich ankam." Der 16-Jährige brachte sein im Feldgeschirr mitgebrachtes Mittagessen oft hinunter und wärmte es am großen Herd auf. "Manchmal kam vom freundlichen Koch noch ein Schlag dazu", erinnerte er sich dankbar.
Im Quertrakt des Hauses, die an der Straße "Am Exerzierplatz" lag, befand sich ein Sitzungssaal, den überwiegend der "Stadtbeirat" benutzte. Im Saal standen neue Stühle, gestiftet vom Überlandwerk Unterfranken, dem eine Stuhlfabrik in den Haßbergen gehörte.
Außer der KPD waren zunächst keine Parteien zugelassen
Der Stadtbeirat war ein erster Schritt auf dem Weg zu deutscher Selbstverwaltung. Da in Würzburg im Herbst 1945 außer der KPD noch keine Parteien zugelassen waren, konnte auch kein Stadtrat gewählt werden. Um trotzdem die kommunale Selbstverwaltung langsam wieder in Gang zu bringen, bestellten die US-Behörden im September einen Beirat der Stadtverwaltung, den "Stadtbeirat".
Er setzte sich zusammen aus je fünf Sympathisanten der noch gar nicht gegründeten CSU und SPD, zwei Mitgliedern der schon lizenzierten KPD und je einem Vertreter der katholischen, evangelischen und jüdischen Religionsgemeinschaft. Später kamen auf speziellen Wunsch der Amerikaner, denen das weibliche Element fehlte, noch zwei Frauen hinzu, Gerda Vey und Margarete Rüttger.
Vertreter der Katholiken war August Burk, der Grombühler Stadtpfarrer, während Max Fechenbach, an den sich Spitznagel als "einen vor Ideen sprühenden Menschen" erinnert, die Juden vertrat. Fechenbach, der Bruder des aus Würzburg stammenden ermordeten SPD-Politikers und Publizisten Felix Fechenbach, hatte das Getto Theresienstadt überlebt und die jüdische Gemeinde in Würzburg wiederbegründet. 1946 wanderte er mit seiner Familie in die USA aus.
Im Mai dieses Jahres wurde auch der erste Würzburger Stadtrat gewählt. Zwar hatte der Wiederaufbau Würzburgs noch nicht begonnen, doch signalisierte diese Wahl, dass die Besatzer begannen, das Wirken der Stadtverwaltung nicht mehr nur selbst zu kontrollieren. Ab sofort war dies auch die Aufgabe der Stadträtinnen und Stadträte.