
Der Einsatz der USA und ihrer Verbündeten in Afghanistan ist nach fast genau 20 Jahren Geschichte.Das Ende war dramatisch. Dass die Taliban wieder die Macht im Land übernommen haben, bestürzt auch Andreas Ziehr. Der 57-Jährige ist Teil des Vorstands von "Shelter Now Germany" (frei übersetzt: schützendes Dach). Seit 38 Jahren leistet die Organisation humanitäre Hilfe in Afghanistan und Pakistan: Nothilfe für Kriegsflüchtlinge und Erdbebenopfer, Wiederaufbau in Afghanistan und langfristig angelegte Entwicklungsprojekte.
Andreas Zier war in der Vergangenheit mehrmals in Afghanistan. Hat dort unter anderem gemeinsam mit anderen Helfern in der westafghanischen Provinzhauptstadt Herat eine moderne Zahnarztklinik aufgebaut. Im Gespräch berichtet er von seinen Kontakten in das Land, wie groß die Ängste derzeit dort sind und was er persönlich empfindet, wenn er die Bilder und Nachrichten verfolgt.
Andreas Ziehr: Mit der Arbeit von "Shelter Now" kam ich 1992 zum ersten Mal in Kontakt. Ein Nachrichtenbericht 1991 über den Genozid an den Kurden, den Saddam Hussein verübt hat, hat mich sehr bewegt. Damals sah ich die Bilder von vielen Tausenden Menschen, die verzweifelt über die Berge in die Türkei geflohen sind. Diese herzzerreißenden Szenen haben sich gewissermaßen in mein Herz gebrannt. 1992 lernte ich in der Türkei einen Kanadier kennen, der Kontakt zu "Shelter Now" im Nordirak hatte und wir besuchten spontan die Arbeit vor Ort. Kurz darauf wurde der Verein "Shelter Now Germany" gegründet und ich wurde kontaktiert und begann mitzuarbeiten. Ich bin jetzt 57 Jahre alt und habe meine aktive Phase der Altersteilzeit begonnen und freu mich auf meine Passivphase, in der ich mich zeitlich noch mehr einbringen und die Regionen bereisen kann.
Ziehr: Ich bin Teil des Vorstands von "Shelter Now Germany". Unsere Aufgabe ist es in erster Linie, die Öffentlichkeitsarbeit und Gelder für unsere Projekte zu generieren, jedoch ist unser Büro in Braunschweig und deshalb ist es für mich eher schwierig, öfter präsent zu sein. Dennoch versuche ich mich regelmäßig auf dem Laufenden zu halten - soweit es mir beruflich möglich ist. Ich arbeite Vollzeit bei der Firma Brose in Würzburg im Bereich der Qualität und bin oft beruflich unterwegs. In der Vergangenheit war ich mehrmals in Afghanistan. Das erste Mal 1997 und das letzte Mal 2017. In den vergangenen Jahren besuchte ich verstärkt unsere Projekte im Nordirak. Hier helfen wir traumatisierten Frauen, die von der IS verschleppt worden sind und auch traumatisierten Kindern, die viel Schreckliches erlebt haben.
Ziehr: Direkte Kontakte nach Afghanistan hatte ich mit unseren ausländischen Mitarbeitern vor Ort, diese haben aber inzwischen alle das Land verlassen. Sowie mit unseren Vollzeit und hauptverantwortlichen Leitern Georg Taubmann und Udo Stolte, die täglich "vom Feld" informiert wurden. Im Falle von besonderen Ereignissen wurde ich im Anschluss informiert.

Ziehr: Meldungen über eine konsequente Anwendung der Scharia mit öffentlichen Amputationen lassen mich erahnen, wie sich die Sache weiterentwickeln kann und schürt viele Ängste unter der Bevölkerung. Viele haben sich zurückgezogen und meiden die Öffentlichkeit. Insbesondere die Mädchen und Frauen haben Angst und bleiben zu Hause, auch wenn die Taliban sagen, es gäbe keine Gefahr. In manchen Gegenden fordern die Taliban alle unverheirateten Frauen im Alter zwischen 15 – 45 Jahre auf, sich zu registrieren, berichten regionale Nachrichtensender. Viele befürchten nun Zwangsehen. Eltern haben Angst, ihre Töchter in die Schule gehen zu lassen, um nicht entführt zu werden. Die Erwartungen an eine gute Zukunft ist bei Vielen verflogen, zumal sich viele Unterstützer von Afghanistan nun abgewandt haben. Die Versorgungslage der Bevölkerung wird sich bald deutlich verschlechtern. Bereits jetzt verliert die Währung massiv an Wert – für die einfache Bevölkerung eine große Katastrophe.
Ziehr: Die Bevölkerung wird versuchen, sich so schnell wie möglich den neuen Gegebenheiten anzupassen. Hier haben die Afghanen viel Erfahrung. Sie werden sich ihre Bärte wieder wachsen lassen und Freitags in die Moschee gehen – so wie es die Herrschenden fordern. Freiwillig aber eher nicht, sondern nur aus Angst vor Repressalien. Die einzige Hoffnung, die wir momentan haben, ist, dass sich in der neuen Talibanregierung die etwas moderateren Führer durchsetzen, unter denen unter anderem auch wieder Hilfsorganisationen, wie auch wir, dort arbeiten könnten. Es gibt jedoch auch sehr gefährliche Talibanführer, die Afghanistan in die Unterdrückung und Hoffnungslosigkeit führen würden, wie vor 20 Jahren.
Ziehr: Die Situation der Menschen vor Ort berührt mich sehr. Viele Menschen sind sehr verängstigt und sehen keine Zukunft.
Ziehr: Unsere erste Zahnarztklinik, die ich mit aufgebaut habe, wurde 2014 bereits an die Regierung übergeben und dem örtlichen Krankenhaus zugeordnet. Danach hatten wir ein größeres Ausbildungsprojekt für Zahnärzte zusammen mit der Universität in einer großen Stadt im Westen Afghanistans. In diesem Ausbildungszentrum für Zahngesundheit erhalten Zahnmedizin-Studierende ihre Praxisausbildung. Eine solche Möglichkeit gab es früher nicht. Viele Studierende durchliefen seitdem diese praktische Ausbildung. Den hohen medizinischen Standard werden die Afghanen ohne ausländische Unterstützung jedoch nicht aufrecht erhalten können, zumal sich auch viele Fachkräfte und Ärzte versuchen abzusetzen. Aktuell ist ein Zahnmedizinisches Projekt im Aufbau, um der Landbevölkerung zu helfen. Im Moment kann aber noch niemand genau sagen, wie das alles weiter geht, zumal man auch auf Hilfsgelder angewiesen ist, um dieses durchzuführen. Wie, und ob sich das unter der neuen Führung gestalten kann, weiß im Moment noch niemand. Hier müssen wir erstmal abwarten.
Ziehr: Ja, es war ein Fehler, dass die amerikanischen Truppen das Land so überstürzt verlassen haben, ohne eine geordnete Nachfolge sicherzustellen. Diese Flucht hat alles völlig destabilisiert. Man hätte im Vorfeld gewisse Standards zur Bedingung eines Abzugs machen müssen – diese Chance wurde vertan und führt nun zum völligen Chaos im Land. Wir können nur hoffen und beten, dass sich die moderaten Kräfte innerhalb der Taliban durchsetzen.
Weitere Informationen über die Organisation "Shelter Now" online unter www.shelter.de.