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ESTENFELD
Wo Mitarbeiter pusten müssen
Arbeitsplatz am Computer beim High-Tech-Unternehmen.
Foto: danielbiscan.com | Arbeitsplatz am Computer beim High-Tech-Unternehmen.
Ernst Jerg
Ernst Jerg
 |  aktualisiert: 27.04.2023 03:01 Uhr

Das Gebäude im Estenfelder Gewerbegebiet ist funktional und in Hufeisenform, die überwiegende Farbe anthrazit mit bunten Akzenten. Im Inneren wartet eine höfliche Empfangsdame: „Wollen Sie einen Cappuccino, während Sie warten?“ So beginnt ein Besuch beim Weltmarktunternehmen ERT (EResearch Technology).

Und schon kommt Geschäftsführer und Executive Vice President Achim Schülke um die Ecke, in Sneakers und Jeans. Also einen Vice President eines Weltmarktführers und Chef über 350 Mitarbeiter stellt man sich eigentlich eher in einem Maßanzug vor.

Doch der Chef der größten ERT-Niederlassung weltweit winkt ab. „Wir sind eine amerikanische Firma. Vor kurzem war unser Chief Executive Officer in Estenfeld. Und auch Jim Corrigan kam in Jeans zu Besuch.“

Entspannte Atmosphäre

Es ist eine auffällig entspannte Atmosphäre im Haus. Jeder grüßt den Chef, das „Du“ ist obligatorisch. In seinem Büro skizziert Schülke erst einmal die Firmengeschichte. Der in Estenfeld angesiedelte Geschäftsbereich hat sich unter anderem auf die zentralisierte Erhebung und Auswertung von Lungenfunktionsmessungen bei Medikamenten-Studien der Pharma-Industrie spezialisiert.

Ehemals Jaeger

Ursprünglich entstand diese Geschäftseinheit aus dem Höchberger Unternehmen Jaeger, ein Marktführer der Lungenfunktionsdiagnostik, der heute als CareFusion bekannt ist. 2010 wurde diese Geschäftseinheit ausgegliedert und von dem amerikanischen Unternehmen ERT aufgekauft. Schülke ist noch ein echter Jaeger.

Gemeinsamer Weg

Er stieg 1987 als Software-Entwickler in Höchberg ein und setzte mit seinen Kollegen telemedizinische Lösungen für Anwendungen im Gesundheitsbereich um. So einige Leute aus der Jaeger-Zeit sind geblieben bei ERT und gingen den Weg gemeinsam mit Schülke.

Der Geschäftsbereich expandierte und so war ein Umzug, weg von den beiden Standorten Höchberg und Heuchelhof, nur eine Frage der Zeit. Das ideale Gelände fand sich 2013 im neuen Estenfelder Gewerbegebiet. In diesem maßgeschneiderten Firmensitz sind die 350 Mitarbeiter untergebracht, die größtenteils am Computer arbeiten.

Neuer Eigentümer Nordic Capital

2016 schließlich erwarb Nordic Capital für 1,8 Milliarden Dollar – das sind etwa 1,6 Milliarden Euro – das Unternehmen mit seinen sieben Standorten.

Es ist ruhig im Firmensitz, obwohl die Büros besetzt sind. Hektik ist bei diesem High-Tech-Unternehmen wohl fehl am Platze. Und was macht ERT denn nun eigentlich?

Einer der Hauptzweige ist das Sammeln von Daten für die Pharmaindustrie auf dem Gebiet der Lungenerkrankungen.

Testdaten sammeln

Diese Testdaten von Studienteilnehmern können zu Hause und beim Arzt mit Geräten aus Estenfeld gesammelt und bewertet werden, erläutert Schülke.

„Wenn ein neues Medikament entwickelt wird, muss die Pharmaindustrie nachweisen, dass das Produkt wirksam ist und keine oder nur wenige unerwünschte Nebenwirkungen hat.

Um dies zu beweisen, sind viele, zum Teil jahrelange Studien mit richtigen Patienten notwendig. Und wir haben uns auf die Studien für neue Lungenmedikamente spezialisiert.“

Unglaubliche Zahlen

Schülke nennt schier unglaubliche Zahlen: Die Entwicklung eines neuen Medikamentes kann acht bis zehn Jahre dauern und dabei bis zu eine Milliarde Euro kosten.

„Die von uns produzierten Geräte werden weltweit bei Patienten mit Lungenerkrankungen genutzt, um diese Daten zu erheben. Und die ERT-Leute sind weltweit unterwegs, um Ärzte, die an einer solchen Studie teilnehmen, auf die Technik zu schulen.“

Estenfelder helfen sparen

Die Estenfelder helfen den Pharma-Unternehmen sichere Medikamente zu entwickeln aber auch Geld zu sparen, da mit Hilfe der Geräte schneller feststeht, ob ein Mittel einschlägt oder unerwünschte Nebenwirkungen zeigt.

Ein Gerät ist ein so genanntes elektronisches Peakflowmeter für Atemwegserkrankungen. Bei ERT entwickelt und im Bayerischen Wald zusammengebaut, ist es laut Schülke ideal für solche Zwecke. Patienten müssen dann für die Auswertung beispielsweise zu bestimmten Tages- und Abendzeiten in die Geräte pusten.

Neue Generation voll vernetzt

Das Gerät stellt auch Fragen, die der Patient auf dem Peakflowmeter beantwortet. Die neueste Generation ist voll vernetzt und übermittelt die Daten direkt an ERT. „Und die Pharmaunternehmen bekommen ihre Daten in Echtzeit“, sagt Schülke.

Bis zu 30 000 Teilnehmer in etwa 100 solcher Studien betreut das Estenfelder Unternehmen jedes Jahr.

Und EKG-Studien für die Medikamentensicherheit bieten die Estenfelder auch an. Natürlich braucht so ein aufwendiges Angebot auch einen umfassenden Hilfsdienst, genannt „Helpdesk“. In Schichten arbeiten die Angestellten 24 Stunden an sieben Tagen die Woche. Und das muss auch so sein, denn die Anrufe hilfesuchender Anwender kommen aus der ganzen Welt.

Spezialschulung

Die Leute am „Helpdesk“ sind über drei bis vier Monate speziell geschult und die Sprache am Telefon ist Englisch. Doch es werden auch noch einige andere Sprachen bedient.

Das Estenfelder Unternehmen ist gerade dabei, sein neuestes Produkt auf den Markt zu bringen: Das neue Spirometer arbeitet kabellos, also im WLAN- oder im UMTS-Modus.

Die Daten werden sofort an ERT übermittelt, ohne das Gerät irgendwo „anstöpseln“ zu müssen.

Mitarbeiter testen Geräte

Im Hintergrund des Großraumbüros sind plötzlich merkwürdige Geräusche zu hören. So sieht also der Test für ein Spirometer aus: Mitarbeiter machen die Backen dick und blasen lange ins Gerät, um die Lunge zu entleeren. Auch Entwickler Bernd Mark hat schon mehrere tausend Mal mal seinen Atem im Gerät gelassen. Die Neuentwicklung ist jetzt schon im Vorstadium begehrt: So haben einige Kunden ihr Interesse signalisiert.

Sozialer Arbeitgeber

In Estenfeld lässt es sich gut arbeiten, sagt die Betriebsratsvorsitzende Marion Wilms. „Wir haben einen sozialen Arbeitgeber.“ So werden die Mitarbeiter beispielsweise geschult, wie man richtig sitzt und der Stressabbau während der Arbeitszeit geübt. In der eigenen Kantine werden etwa 120 Essen täglich gekocht und das Busticket zum Arbeitsplatz übernimmt ebenfalls der Arbeitgeber.

Der Zusammenhalt ist groß im Unternehmen: So werden Päckchen für Flüchtlinge in Griechenland gepackt und Mitarbeiterspenden von ERT verdoppelt.

Laptops für guten Zweck

ERT verkauft derzeit auf Werkseinstellung zurückgesetzte Notebooks für 20 Euro und Drucker für 5 Euro an Flüchtlinge. Den WLAN-Adapter besorgt ein Mitarbeiter privat und gibt ihn zum Selbstkostenpreis weiter. Er unterstützt in seiner Freizeit auch beim Konfigurieren und Aufsetzen der Laptops.

3000 Euro sind so schon für einen guten Zweck zusammengekommen. Die Mitarbeiter der ERT haben zusätzlich zu der Aktion noch 80 Boxen für die Aktion „Liebe im Karton“ gesammelt.

Es gibt mittlerweile auch wieder Expansionspläne: Das Gebäude in Hufeisenform verträgt noch einen weiteren Finger. Bisher arbeiten 350 Leute für ERT, 400 könnten es bald werden. „Wir denken darüber nach“, sagt der Vice President.

Das Unternehmen

ERT EResearch Technology/Inc.

Standorte: Estenfeld, Genf, Philadelphia, Bridgewater, Pittsburgh, Boston, Peterborough, Tokio.

Gründungsjahr: 1972.

Mitarbeiterzahl: weltweit 1500, in Estenfeld 350.

Umsatz: Nicht verfügbar.

Hauptleistungen: Zentralisierte Datenerhebung für Studien der Pharmaindustrie.

Executive Vice President Estenfeld: Achim Schülke.

Präsident und CEO weltweit: Jim Corrigan.

Homepage: www.ert.com

Geräte-Test bestanden: Bernd Mark und Chef Achim Schülke.
Foto: danielbiscan.com | Geräte-Test bestanden: Bernd Mark und Chef Achim Schülke.
Entwickler Bernd Mark testet das neue kabellose Peakflowmeter. Dazu braucht es einen langen Atem.
Foto: Ivana Biscan | Entwickler Bernd Mark testet das neue kabellose Peakflowmeter. Dazu braucht es einen langen Atem.
 
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