Es sind schreckliche Schilderungen, die aus Angelika Wagners Mund kommen. "Wir haben eine Mutter von Zwillingen kennengelernt, ihre neunjährige Tochter ist in einem Camp zweimal sexuell missbraucht wurden und spricht seitdem nicht mehr", erzählt die ehrenamtliche Helferin der Sant'Egidio Gemeinde. "Jetzt soll sie zurück in den Kongo gehen. Wie soll sie das alleine schaffen?"
Keiner der Anwesenden hat eine Antwort auf die Frage und es herrscht eine Weile Stille im Raum. Nicht diese Art von Stille, die einen dazu drängt etwas zu sagen – diese fühlt sich richtig an, als müsste sie ewig anhalten, um dem Gehörten den verdienten Raum zu geben. Jeder scheint seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Irgendwann ergänzt Wagner leise: "Ich habe selten jemanden mit so wenig Hoffnung gesehen."
Ein erster Besuch im Camp Eleonas
Angelika Wagner ist eine von 22 ehrenamtlichen Helfern und Helferinnen der Sant'Egidio Gemeinde in Würzburg. Zusammen mit Franziska Müller, Mohamad Albdewi und 19 weiteren Ehrenamtlern war sie Anfang August im Flüchtlingslager Elenoas in Athen. Jetzt sind sie zurück in Würzburg und erzählen von ihren Erlebnissen und Eindrücken. Die Gemeinde Sant'Egidio engagiert sich seit mehreren Jahren für Geflüchtete, hilft ihnen beim Lernen der Sprache und Einleben in die neue Heimat. Auch die Arbeit vor Ort in den Flüchlingscamps ist ein wichtiger Bestandteil. Mehrere Male war die Gemeinde bereits im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos. In diesem Jahr haben sie zum ersten Mal das Camp Eleonas in Athen besucht.
Vor Ort hat das Team um Angelika Wagner ein Ferienprogramm für Kinder gestaltet und vor allem Mathe, Englisch, Lesen und Schreiben mit ihnen gelernt. Abwechselnd mit anderen Teams versucht die Gemeinde Sant'Egidio vor Ort, Kontakte zu offiziellen Stellen zu knüpfen und auf das Schicksal der Menschen aufmerksam zu machen.
Das Festland von Griechenland - Warteschleife und Endstation
Es liegt auf einem stillgelegten Industriegelände mitten in Athen. Die Gegend ist dreckig und Touristen verlaufen sich so gut wie nie in diesen Stadtteil. Von dem einstigen Vorzeigecamp für Geflüchtete ist nicht mehr viel übrig geblieben. Elenoas galt als Camp mit hohen Standards, wie fließend Wasser, Containerwohnungen und Klimanalgen. Mittlerweile sei es ein trostloser Ort ohne Hoffnung, beschreibt Franziska Müller ihre Eindrücke vor Ort. Vor dem großen Brand im Camp Moria auf Lesbos, waren es die Unterkünfte auf den Inseln, die überfüllt waren. Doch die Strategie habe sich geändert, erklärt Müller. Nach dem Brand im Camp Moria auf Lesbos, reagierte die griechische Regierung auf die Kritik an dem überfüllten Lager. Die Geflüchteten wurden in Camps auf dem Festland weitergeleitet, um die Inseln zu entlasten.
Was im ersten Moment wie eine Verbesserung klingt, ist für die Menschen auf der Flucht ein Alptraum: "Die Menschen haben gedacht, wenn sie aufs Festland kommen, dann erreichen sie endlich ihr Ziel, dann kommen sie nach Europa und jetzt hängen sie dort fest", erklärt Wagner betroffen. Das mache sich vor allem an der Stimmung im Camp bemerkbar. "In Moria hat man noch diese Hoffnung der Menschen gespürt, die Hoffnung, dass es weiter geht. Bei all dem Schrecklichen dort, hatten sie immer noch den Gedanken durchzuhalten und danach anzukommen", resümiert sie.
Die Menschen werden erfinderisch
Ankommen in Europa - in Elenoas scheint niemand mehr an diesen Traum zu glauben. Gestrandet in einem Camp, das auf eine so hohe Zahl von Bewohnerinnen und Bewohnern nicht ausgelegt ist, werden die Menschen erfinderisch. Zwischen Containern und kleinen Holzhütten sind überall Zelte aufgeschlagen oder Decken über Stöcke gespannt. "Man denkt nicht, dass dort jemand wohnt, bis man jemand aus den Zelten herauskommen sieht", beschreibt Wagner die Lage vor Ort.
Vom Standard und der Ausstattung sei das Camp zwar besser als sie es in Moria erlebt haben, doch die trostlose Stimmung sei für alle spürbar gewesen. "In Moria sind uns die Menschen entgegengelaufen und wollten wissen wer wir sind, haben mit uns gesprochen und uns begrüßt.", erzählt Mohamad Albdewi.
Als ehemaliger Flüchtling mit Hoffnung im Gepäck zurück ins Camp
Wenn Albdewi bei seiner Arbeit für die Sant'Egidio Gemeinde in Camps, wie das in Athen fährt, ist es für ihn eine Reise in seine Vergangenheit. Vor sechs Jahren ist er selbst von Syrien nach Deutschland geflohen und weiß genau, was die Menschen vor Ort brauchen: "Essen und Trinken haben sie, dafür ist gesorgt. Aber ein Lächeln bekommen sie selten", erklärt er. Er spricht aus Erfahrung. Nie werde er den Moment vergessen, als er selbst auf dem Boden in Moria saß und eine Frau ihm ein Stück Wassermelone zugeworfen habe - ohne Lächeln, ohne Empathie. "Ich habe mich in dem Moment so klein gefühlt, als wäre ich nichts wert", erinnert er sich. Solche Erfahrungen sind es, die Albdewi heute bei seiner Arbeit mit Geflüchteten helfen. "Dieses Lächeln ist ein Zeichen, dass man als Mensch gesehen wird und zur gleichen Welt gehört", erklärt er.
Aber nicht nur ein Lächeln möchte er den Menschen schenken, sondern auch Hoffnung. Er habe gemerkt, wie bei den Menschen im Camp Stück für Stück der Glaube an eine Zukunft in Europa verstummt. In solchen Momenten sei er auf die Menschen zugegangen und habe ihnen gesagt: "Vor sechs Jahren, war ich an der gleichen Stelle wie du und ich habe es auch geschafft". Mittlerweile lebt Mohamad Albdewi in Deutschland und hat eine Ausbildung begonnen. Was er geschafft hat, davon träumen die Menschen in Elenoas. Damit diese Träume wahr werden können, setzen sich die Teams der Sant'Egidio Gemeinde weiter für die Menschen ein, reisen zu den Camps vor Ort und tragen ihre Geschichten in die Welt hinaus.