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WÜRZBURG
„Wer Geld verwaltet, kann sich nicht selbst kontrollieren“
Die 100-Tage-Bilanz: Der Würzburger Bischof Franz Jung im Interview mit dieser Redaktion.
Foto: Daniel Peter | Die 100-Tage-Bilanz: Der Würzburger Bischof Franz Jung im Interview mit dieser Redaktion.
Christine Jeske
,  Michael Reinhard
 und  Achim Muth
 |  aktualisiert: 07.04.2020 12:03 Uhr

Bischof Franz Jung hat bereits gerne gelacht, als er noch Generalvikar des Speyerer Bischofs war. Er hat es nicht verlernt – trotz Missbrauchsstudie, SBW-Finanzaffäre mit Freistellungen, Rücktritten und Hausdurchsuchungen der Staatsanwaltschaft. Kaum ein Bischof hat sein Amt mit so vielen „Einschlägen“ begonnen. Wenn diese Themen aufs Tablet kommen, verändert sich allerdings sein fröhlicher Gesichtsausdruck. Er wird nachdenklich, ernst – und steht umfassend Rede und Antwort. Ein Gespräch mit einem Bischof, der erst ein Jahr lang sein Bistum anschauen will und sich zu Wort meldet, wenn es seiner Meinung nach angebracht ist – auch wenn viele meinen, er müsste früher Statements abgeben.

Sie sind seit gut 100 Tagen Bischof von Würzburg. Gibt es etwas, was Sie aus Ihrer pfälzischen Heimat vermissen?

Bischof Franz Jung: Nein. Wenn man in ein neues Bistum kommt, erkennt man viele Dinge, Szenen und Probleme wieder. Nur die Positionen sind anders besetzt. Der Katholizismus in Bayern ist jedoch anders als der in der Pfalz. Hier gibt es sehr viele volkskirchliche Traditionen, etwa die vielen Wallfahrten wie beispielsweise die auf den Kreuzberg. Das ist sehr schön und ist tief verwurzelt in den Menschen. Sie sind ein Stück geistliche Heimat, die den Menschen Kraft geben. Solches Brauchtum ist in der Pfalz weniger ausgeprägt.

Warum nicht?

Bischof Franz Jung: Wir hatten in der Pfalz die große Säkularisierung. Die Franzosen haben vor über 200 Jahren ,tabula rasa‘ gemacht, vieles zerstört. Deshalb gibt es in der Pfalz auch nicht so einen reichen historischen Baubestand wie in Franken und damit auch nicht die vielen wunderbaren alten Kirchen. Was auch anders ist: Der Pfälzer hat von den Franzosen den Freiheitsdrang gelernt. Mit der bayerischen Obrigkeit gab es im 19. Jahrhundert so manchen Strauß auszufechten. Gewohnt, sich mit fremden Herrschaften zu arrangieren, gehen die Pfälzer die Probleme mit einem gesunden Pragmatismus an und vor allem mit einer gehörigen Portion Nüchternheit.

Der Franke ist also ein komplizierteres Wesen?

Bischof Franz Jung: Nein. Ich habe den Franken schon mehrfach gesagt, sie müssten sich nicht dauernd für ihre raue Schale entschuldigen, hinter der sich ein weicher Kern verberge. Alle Begegnungen waren bisher von einer großen Herzlichkeit geprägt. Im Blick auf Kirche meine ich wahrnehmen zu können, dass in Franken die Kirche noch mehr und selbstverständlicher zur Lebenswelt der Menschen gehört als beispielsweise in der Pfalz.

Begegnet der Franke Ihnen beziehungsweise dem Bischofsamt also mit viel mehr Ehrfurcht als der Pfälzer?

Bischof Franz Jung: Nein. Wer Kritik äußern möchte, der tut es auch in Franken. Es sind jedoch sehr herzliche Begegnungen hier. Ich spüre immer wieder: Man freut sich, dass der Bischof kommt. Kirche gehört hier zum Leben dazu.

Ihr Vorgänger, Bischof Friedhelm Hofmann, ist der Narretei sehr zugetan. Wie ist Ihr Verhältnis zum Fasching?

Bischof Franz Jung: Ich habe ein entspanntes Verhältnis dazu. Ich bin allerdings kein wilder Fasenachter. Die Fränkische Fastnacht in Veitshöchheim – die werde ich noch hinkriegen.

Was hat Sie in Ihrer neuen Heimat überrascht?

Bischof Franz Jung: Es gibt hier eine große Nähe von Politik zu Kirche. Ich spüre derzeit eine tiefe Irritation vieler Menschen – auch in ihrem Ringen um ihr Verhältnis zur CSU. Die Nähe, die zwischen CSU und Kirche immer da war, beginnt zu bröckeln. Dass sich ein Münchner Kardinal kritisch zum Ministerpräsident äußert, das ist für viele Menschen neu.

Wie stehen Sie dazu?

Bischof Franz Jung: Wir haben als Kirche einen Verkündigungsauftrag. Wenn wir merken, Dinge gehen in eine ganz andere Richtung, müssen wir Position beziehen. Wir sind als Kirche ein selbstständiger Partner, der gerne bereit ist, seinen Beitrag zu leisten – aber der auch mal sagt: Das ist nicht ok.

Zu den Problemen gehört die Reform der Pfarreienstruktur. Wie geht das unter Bischof Friedhelm begonnene Projekt weiter?

Bischof Franz Jung: Als Generalvikar in Speyer habe ich einen solchen Veränderungsprozess ja bereits durchgeführt und ,durchlitten‘. Hier im Bistum Würzburg ist bereits viel Vorarbeit geleistet worden, die gewürdigt werden muss. Ich besuche in den kommenden Monaten alle 19 Dekanate, werde mit den Haupt- und Ehrenamtlichen diskutieren, weil mir beide Perspektiven wichtig sind. Zuvor habe ich Leitfragen mit auf den Weg gegeben: Was sind die Herausforderungen im jeweiligen Dekanat? Warum muss es hier Kirche geben? Was haben wir an Ressourcen? Wo ist Kirche hier präsent – auch übergreifend im Blick auf Caritas und Schulen? Wie ist der Prozess ,Pastoral der Zukunft‘ bisher gelaufen? Wo stehen wir und was glauben wir, ist der nächste Schritt, den wir gehen müssen? Zeitpläne kann ich momentan noch keine verkünden. Generell werde ich im ersten Jahr meines Amtes alles genau anschauen gemäß der alten Regel ,primo anno oculus‘, ,im ersten Jahr nur sehen‘, weil man so vieles erst einmal kennenlernen und verstehen muss.

Weshalb braucht es Kirche hier?

Bischof Franz Jung: Erstens: Wir müssen uns im Gebet – was eigentlich selbstverständlich ist – noch einmal neu unserer Mission vergewissern. Wir brauchen Räume der Vertiefung und Kontemplation. In jedem Baumarkt steht heute ein Buddha-Kopf für den Vorgarten. Das ist ja ein Indikator. Es ist offenbar eine tiefe Sehnsucht nach Spiritualität da. Wie gehen wir mit dieser Sehnsucht um? Und was bedeutet es, wenn viele Gläubige diese Sehnsucht im Gottesdienst nicht befriedigt sehen? Zweitens: Sprachfähig werden im Glauben kann ich nur, wenn ich selbst etwas erfahren habe und sagen kann, was mir das bedeutet. Und drittens: Der Dienst an den Armen. Was ist der Mehrwert, den Kirche auf vielen Gebieten leistet?

Was kann die Kirche bieten, um die Bedürfnisse aufzugreifen?

Bischof Franz Jung: Im Blick auf die Gottesdienste und ihre Gestaltung ist die Objektivität des Katholischen mit seiner Betonung der Sakramentalität eine ungeheure Kraft. Die Nüchternheit des gottesdienstlichen Vollzugs lässt dem Einzelnen die Freiheit, sich noch einmal zum Gottesdienst zu verhalten. Anders ist die Unmittelbarkeit des Betens und der Gottesdienste, wie sie in den Freikirchen praktiziert wird. Viele Menschen vermissen bei uns diese Unmittelbarkeit.

Kaum waren Sie zum Bischof von Würzburg geweiht, tauchten die ersten Probleme auf wie die SBW-Affäre. Hat man da auf Sie gewartet?

Bischof Franz Jung: Das sind Vorgänge, die lange vor meiner Zeit liegen. Ich wusste davon, weil mich der Generalvikar im Vorfeld darüber informiert hatte. Auslöser war ein Immobilienverkauf, bei dem offenbar einige Regeln nicht beachtet wurden. Ich bin für eine möglichst neutrale Aufklärung durch eine unabhängige Stelle – das ist in diesem Fall die Staatsanwaltschaft.

Es gab aber schon vor dem Gang zur Staatsanwaltschaft Entscheidungen, etwa die Freistellung des SBW-Geschäftsführers.

Bischof Franz Jung: Wichtig war mir, dass eine gute und sachgemäße Aufklärung erfolgt. Ich wusste von der Freistellung des Geschäftsführers. Nachdem sich abgezeichnet hat, dass die Kooperationsbereitschaft zur Aufklärung des Sachverhalts sehr begrenzt ist, war dieser Schritt folgerichtig.

Und der Generalvikar handelt in Ihrem Auftrag?

Bischof Franz Jung: Natürlich. Der Bischof hat die Leitung des Bistums inne, aber dem Generalvikar obliegt die Verwaltung des Bistums. Der Bischof ist die Legislative. Der Generalvikar die Exekutive, also das ausführende Organ. Der Offizial, der Vorsitzende des Kirchengerichts, ist die Judikative.

Letztlich geht es um Geld.

Bischof Franz Jung: Es stellt sich die Frage, wie Finanzen sachgemäß verwaltet werden. Alle Bistümer stellen sich derzeit diese Frage. Wie geht eine sachgemäße Finanzverwaltung? Ich will Transparenz in Finanzangelegenheiten.

Und dabei spielt Entflechtung eine Rolle?

Bischof Franz Jung: Derjenige, der Geld verwaltet, kann sich nicht selbst kontrollieren – Stichwort Compliance. Die Problematik, die sich hier aufgetan hat, war, dass verschiedene Zuständigkeiten den Blick dafür verstellt haben, was geht und was nicht geht. Ich unterstelle niemandem bösen Willen. Aber die Bereiche müssen getrennt werden. Dieser Lernprozess vollzieht sich derzeit in allen Bistümern. Wir müssen das tun. Wir sind der Öffentlichkeit verpflichtet und müssen einen Haushalt vorlegen, der nachvollzogen werden kann.

Kommen wir zu einem anderen Thema: Vor kurzem hat eine Frau, Alexandra W., die einen Geistlichen des sexuellen Missbrauchs beschuldigt, versucht, mit Ihnen zu sprechen. Sie konnten aus Zeitgründen nicht und haben sie ans Ordinariat verwiesen. Dort hörte sie, dass es im ganzen Bistum keinen Seelsorger gibt, der mit ihr reden möchte. Wie war Ihre Reaktion?

Bischof Franz Jung: Dieser Fall ist bereits von staatlich-juristischer als auch von kirchenrechtlicher Seite zu den Akten gelegt worden. Zudem habe ich gehört, dass bereits Seelsorgegespräche mit der Frau stattgefunden hätten. Grundsätzlich bin ich gerne bereit, mit Betroffenen zu sprechen. Das habe ich bereits in Speyer vielfach getan. Aktuell wollte ich erst einmal abwarten, bis die Missbrauchsstudie veröffentlicht war.

Da eine zweite Beschuldigung gegen den Geistlichen bekannt wurde, stellt sich womöglich der Fall Alexandra W. anders dar.

Bischof Franz Jung: Wie gesagt, ich bin gerne bereit, mit der Frau ein Gespräch zu führen, sofern das gewünscht ist. Inwieweit sich neue Anhaltspunkte ergeben, bleibt abzuwarten.

In Zukunft soll es Seelsorgeteams geben.

Bischof Franz Jung: Das Team soll nicht nur aus Seelsorgern, sondern auch aus Therapeuten bestehen, die im Umgang mit Betroffenen geschult sind. Auch wenn sich zwischen 2010 bis 2012 die meisten Betroffenen gemeldet haben, ist das Thema nie erledigt. Wir werden nur erfahren, was wirklich passiert ist, wenn Betroffene sich melden.

Wurden Sie nach der Veröffentlichung der Missbrauchsstudie von Betroffenen angesprochen?

Bischof Franz Jung: Das Problem ist, dass sich Betroffene oft erst nach Jahrzehnten melden – wenn der Anstoß dazu von außen kommt. In den vergangenen Wochen haben mich mindestens zwei Menschen angesprochen und gesagt, dass sie Missbrauch in der eigenen Familie erlebt haben. Wie geht man mit dem eigenen Vater um? Das sind Fragen, die Betroffene und Angehörige schier in die Schizophrenie treiben. Es ist die Frage, wem man noch vertrauen kann.

Sie sagten in einem früheren Gespräch, dass im Bistum Speyer das Thema Missbrauch viel umfassender bearbeitet worden sei als in Würzburg.

Bischof Franz Jung: Es gab zehn Bistümer, die die Personalakten von 1946 bis 2014 durchzusehen hatten. Zu diesen zehn Bistümern gehörte das Bistum Speyer, nicht aber das Bistum Würzburg. Es geht hier also um ein quantitatives, nicht um ein qualitatives Mehr.

Wird sich der Umgang der Kirche mit den Tätern aufgrund der Erkenntnisse durch die Studie nun ändern?

Bischof Franz Jung: Früher hieß es oft, die Tat sei ein ,Ausrutscher‘ gewesen. Ich sage klar: Sexueller Missbrauch ist ein Verbrechen, das zur Anzeige gebracht werden muss. Die Praxis der 70er und 80er-Jahre, nach einem Vorfall den Täter einfach zu versetzen, die gibt es heute nicht mehr.

Und wird den Opfern nun auch mehr Glauben geschenkt?

Bischof Franz Jung: Jeder, der sich an Kindern vergeht, hat seine eigene Selbstrechtfertigungsstrategie, warum er das gemacht hat. Es wird in Abrede gestellt oder bagatellisiert. Schlimm war: Man hat den Opfern früher nicht geglaubt, egal ob sie von einem Priester oder von einem Familienangehörigen missbraucht wurden. Es war einfach nicht denkbar. Auch bei der Polizei oder beim Jugendamt hieß es oft: Das gibt es nicht. Das ist heute zum Glück anders. Die meisten Betroffenen, mit denen ich gesprochen habe, waren nicht an Geld interessiert. Sie wollten nur, dass jemand sagt: Das war so. Das Nichtgehörtwerden und Nichtglauben hat sie belastet.

Die Forscher der Missbrauchsstudie sind dennoch der Meinung, dass das Thema Missbrauch in der Kirche weiter fortbesteht.

Bischof Franz Jung: Dass sich ab 2012 immer weniger Betroffene gemeldet haben, heißt nicht, dass es Missbrauch nicht mehr gibt. Unsere Präventionsmaßnahmen versuchen jedoch Missbrauch soweit als möglich zu verhindern und für die Problematik zu sensibilisieren. Vor der Ministranten-Wallfahrt oder vor der Sternsinger-Aktion werden alle Mitarbeiter geschult: Was ist erlaubt, was nicht? Wo schlafen die Kinder? Wo können die Kinder auf Toilette gehen? Wie verhält man sich in bestimmten Situationen? Allerdings ist die Bezichtigung des Missbrauchs auch eine furchtbare Waffe. Wir erleben das derzeit in der Öffentlichkeit, ohne dass ich hier ein Urteil zu den einzelnen Fällen abgeben könnte. Ich habe jedoch erleben müssen, dass häuslicher Missbrauch einem Kirchenmann zugeschoben werden sollte, um das eigene Tun zu verschleiern.

Die Aufarbeitung von Missbrauch ist auch eine Aufgabe der Gesellschaft?

Bischof Franz Jung: ,Alle segeln derzeit im Windschatten der katholischen Kirche und ducken sich weg‘, sagte ein Vertreter des wissenschaftlichen Beirates anlässlich der Vorstellung der Studie. Das merkt man an den vielen Meldungen zur Missbrauchsstudie. ,Das ist die Kirche, das sind wir doch nicht‘, heißt es. Dabei zieht sich das Thema durch alle Bereiche der Gesellschaft und muss auch als gesellschaftliches Problem angegangen werden.

Wenn sich Ihnen gegenüber jemand offenbart – etwa bei der Beichte – wie reagieren Sie?

Bischof Franz Jung: Ich kann als Beichtvater zur Auflage machen, dass der Täter seine Tat den Strafverfolgungsbehörden offenbart. Das Schlimme war, dass die Beichte meines Erachtens häufig genutzt wurde, um sich seiner Tat einfach geistlich zu entledigen, die Perspektive des Opfers aber gänzlich ausgeblendet wurde.

Sie gehörten von Anfang an dem Beirat der Studie an. Warum haben Sie sich erst später als viele ihrer Bischofskollegen beziehungsweise nach Veröffentlichung der Missbrauchsstudie konkret dazu geäußert?

Bischof Franz Jung: Das war so mit allen Mitgliedern des wissenschaftlichen Beirates vereinbart. Professor Harald Dreßing hat nach Vorabveröffentlichung der Studie die Bischöfe noch einmal ausdrücklich darüber in Kenntnis gesetzt, dass sich das Forscherkonsortium erst ab dem 25. September öffentlich zur Studie und ihrer Kommentierung äußern wird. Und wir haben uns alle an diese Vereinbarung gehalten. Deshalb habe ich mich auch erst ab dem 25. September dazu geäußert.

 
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