Die Geschichte der Universitätsbibliothek (UB) beim Luftangriff auf Würzburg am 16. März 1945 ist ein gutes Beispiel dafür, wie kompliziert es sein kann, Geschichte ohne noch lebende Zeitzeugen nachzuvollziehen. Hinzu kommt, dass die Brandbomben der britischen Streitkräfte die UB bis auf einen Raum vollständig zerstörten und dabei 80 Prozent der Bücher und sonstigen Schriftstücke vernichteten.
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So sind es heute gerade noch ein paar erhalten gebliebene Briefe, aus denen hervorgeht, wie sich die Bücherei, die in der Alten Universität in der Innenstadt untergebracht war, auf den drohenden Angriff vorbereitete. Viel mehr Material, so erklärt der heutige Bibliotheksdirektor Hans-Günter Schmidt, steht nicht mehr zur Verfügung. Dass erst relativ spät damit begonnen wurde, die wertvollen Handschriften, Bücher und Akten auszulagern, hängt laut Schmidt damit zusammen, dass die Nationalsozialisten möglichst lange den Anschein erwecken wollten, die Dinge liefen normal und der Krieg könne noch gewonnen werden.
Kein Notfallkonzept für die Bibliothek
Am 26. April 1943 schrieb der damalige UB-Direktor Hans Brein einen Brief an Otto Handwerker, den Direktor der Bayerischen Staatsbibliothek in München, der die Würzburger UB von 1926 bis 1937 geleitet hatte. Brein ließ ihn wissen, dass er bei der Uni-Leitung „eine verschärfte Aktion in der Sicherung unserer UB“ angemahnt habe. Es seien daraufhin einige Beschlüsse gefasst worden, die unter anderem darin resultierten, dass das Dach des Borgiasbaues (an der Neubaustraße zwischen Neubau- und Michaelskirche) mit einer Sandschicht belegt worden sei. „Hoffentlich hält es der Bau aus“, schreibt Brein. Ein Konzept für die gesamte Bücherei gab es aber nicht: „Inzwischen ziehen wir unsere Bücher herum wie die Katze ihre Jungen“, schrieb Brein nach München.
Die ersten Kisten werden gepackt
Am 21. September 1944 schrieb Brein abermals an Handwerker. Er berichtete von einem vorausgegangenen Disput des Unirektors mit der Gauleitung. Der Rektor habe dabei gedroht, die Bibliothek ganz zu schließen und die Bestände auf Wägen ohne Verpackung fortfahren zu lassen. Schließlich sei im August eine Weisung des Ministeriums mit folgendem Inhalt eingetroffen: „Da bei der jetzigen Kriegslage auch in Würzburg mit Fliegerangriffen gerechnet werden muss, und verlorene Bücher kaum mehr ersetzbar sind, ersuche ich, die noch nicht gesicherten Bestände der UB raschestens so gut als möglich nach auswärts zu bergen.“ „Seitdem tragen wir Bücher und packen Kisten um Kisten. Anfang September hatten wir 300 Kisten fertig, die nach auswärts gingen“, schrieb Brein. Und er blickt nichts Gutes ahnend in die Zukunft: „Mit dem Wiederaufbau wird es so ein Sache werden. Ich denke lieber jetzt noch nicht daran.“
1944 waren 120 000 Bücher ausgelagert
Zuvor hatte am 8. August Uni-Rektor Ernst Seifert an den Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung berichtet, dass „900 Kisten mit rund 120 000 Büchern nach auswärts verbracht“ worden seien. 150 000 Bände seien im UB-Gebäude „leidlich gesichert“ eingelagert worden. Die sichersten Räume in der Alten Uni wären die ausgedehnten Keller, die aber fast vollständig für die Lagerung von Wein genutzt würden. Rektor Seifert: „Insgesamt dürfte also ein Drittel des Bestandes als gesichert zu betrachten sein.“ Und weiter heißt es in dem Schreiben: Trotz aller Sicherungsmaßnahmen bestehe die Sorge um die in der UB noch vorhandenen 310 000 Bände weiter, da die Bibliothek in einem schon in Friedenszeiten besonders feuergefährdeten Gebäude untergebracht sei. Sich selbst lobend hob Seifert hervor, dass die Würzburger UB trotz des niedrigen Personalstandes (viele Mitarbeiter waren von der Wehrmacht eingezogen worden) bisher den Betrieb in vollem Umfang aufrecht halten konnte, was natürlich ganz im Sinne der NS-Propaganda war.
Immerhin kam Seifert aber zu dieser Einsicht: Wenn die UB in ihren gefährdeten Räumen den Betrieb in vollem Umfang weiterführe, sei sie mit ihren wertvollen Restbeständen ungeschützt, wenn sich die Luftlage verschärfen sollte. Diese Befürchtung bewahrheitete sich schließlich am 16. März, als die UB von britischen Bombern schwer getroffen und nahezu komplett zerstört wurde und mithin zigtausende Schriftstücke vernichtet wurden.
Katastrophale Lage nach dem 16. März
Heinrich Endres, ein Mitarbeiter der UB wandte sich ein dreiviertel Jahr nach der Zerstörung am 1. Dezember 1945 an Otto Handwerker und beklagte die Zustände in Würzburg: „Wir sind hier in einer katastrophalen Lage, die jeder Beschreibung spottet.“ Die meisten Kataloge seien verbrannt, was bedeutet, dass nie mehr genau nachvollzogen werden konnte, was alles verloren gegangen ist. In dem Brief heißt es: „Ganz vernichtet ist Medizin, Theologie, Anglica und die Dissertationen. Die UB besitzt nicht einmal mehr eine Schreibmaschine, geschweige denn Katalogblätter oder sonst etwas“, heißt es weiter. „Hier hätte noch vieles geborgen werden können, wenn nicht alles (gemeint sind Mitarbeiter) rücksichtslos zum Heere und Volkssturm geholt worden wäre“. Die UB bestand zu dieser Zeit aus einem einzigen Raum in der Alten Universität.
Aus einem Lagebericht der UB vom 29. Juli 1946 geht hervor, dass in den drei Gebäuden der UB vor dem Luftangriff 550 000 Bände untergebracht waren. Weiter wird festgestellt, dass von den 1650 ausgelagerten Bücherkisten 610 bereits zurückgeholt worden seien. Sie enthielten ungefähr 50 000 Bände. Die Kisten waren in der Krypta des Domes, in Frickenhausen, Kist, Sendelbach und Werneck ausgelagert. Weitere 1000 Kisten mit etwa 70 000 Bänden befänden sich noch in Arnstein, Diebach, Maria-Burghausen, Rimpar, Ruppertshütten und Sackenbach. Man könne sie aber noch nicht zurückholen, weil kein Platz für sie vorhanden sei. Außerdem müssten die wertvollen Handschriften, die in den Depots der Deutschen Bank in Würzburg sowie den Sparkassen Ochsenfurt und Aub lagerten, schon aus Sicherheitsgründen dort belassen werden.
Die ganze Bücherei in einem einzigen Raum
Auch drei Jahre nach der Zerstörung der UB hat sich die Situation immer noch nicht wesentlich verbessert. In einem Schreiben vom 12. März 1948 an den Verwaltungsausschuss der Universität stellt der damalige UB-Direktor Georg Keller fest, dass die Rückführung zwar zum großen Teil durchgeführt sei, es aber an Platz fehle um die Kisten zu lagern. Daher sei es auch unmöglich, die Bücher für Benutzer zugänglich zu machen. Die nunmehr drei vorhandenen Magazinräume reichten gerade für die Neuzugänge aus. „Der ganze Wiederaufbaubetrieb spielt sich praktisch in einem einzigen Verwaltungsraum ab, in dem acht Personen arbeiten und auch noch der Publikumsverkehr vor sich geht.“
Heute noch kein Auslagerungskonzept
Für den Historiker Hans-Günter Schmidt werfen der Angriff auf die UB und dessen Folgen auch Fragen für die heutige Zeit auf. „Daran lässt sich gut erkennen, wie eine einzige Nacht 300 Jahre Sammeltätigkeit zerstören kann und was es bedeutet, wenn man auf kulturelle Werte nicht gut aufpasst“, sagt Schmidt. Einrichtungen wie die UB seien vernachlässigt worden, während für militärisch sinnlose Transporte kurz vor Kriegsende immer noch Geld ausgegeben wurde, so Schmidt.
Wer nun aber glaubt, dass sich dergleichen heute nicht mehr wiederholen könnte, irrt. Denn weder gibt es ein Ausweichquartier noch ein Auslagerungskonzept für die Unibibliothek. Das gilt auch für zivile Zwischenfälle wie beispielsweise einen Großbrand oder Naturereignisse. Lediglich die Handschriften im Tresorraum seien sicher untergebracht, sagt der UB-Direktor. „Die Schriften ab dem 15. Jahrhundert würden aber einem Großfeuer nicht standhalten“, sagt Schmidt. Im Übrigen seien auch die 1945 ausgelagerten und geretteten Bestände, von denen viele Klimaschäden davongetragen haben, nicht in einem besonders guten Zustand, denn, so Schmidt: „Es gibt keine Mittel für die Restaurierung.“
Deshalb will der UB-Leiter auch das 400-jährige Jubiläum der Bibliothek, das in diesem Jahr gefeiert wird, nutzen, um darauf aufmerksam zu machen, dass in Katastrophenfällen kulturellen Einrichtungen allzu oft nur ein geringer Stellenwert beigemessen werde.