Es ruht im Volldunkel. Bei 18 Grad Celsius, im dreifach gesicherten Tresor und mit direktem Draht zur Polizei. Dass das Kiliansevangeliar ans Licht kommt? „Sehr, sehr selten“, sagt Dr. Hans-Günter Schmidt und überlegt. Vor vier, fünf Jahren müsse es zuletzt gewesen sein, zum Abschluss des großen Digitalisierungsprojekts. Doch seit die Würzburger Universitätsbibliothek (UB) ihre wertvollsten und ältesten Schätze, die 214 Handschriften der ehemaligen Dombibliothek, für jedermann jederzeit online zugänglich erschlossen hat, ruht die bekannteste Prachthandschrift still und ungestört vollklimatisiert und höchstgesichert vor sich hin.
An diesem Dienstag aber liegt es auf schwarzem Samt mitten im Lesesaal der Sondersammlungen – und wird erst bestaunt, dann fotografiert. Bischof Franz Jung hat sein Smartphone gezückt und beugt sich über den prunkvollen dicken Einband des . . . nun ja, des erstaunlich kleinen Evangeliars, das seit 1000 Jahren dem Missionsbischof Kilian zugeschrieben wird.
„Quartformat“, sagt Dr. Katharina Boll-Becht, die kommissarische Leiterin des Digitalisierungszentrums der UB, lächelnd zu den gerade mal 20 auf 30 Zentimeter. Ja, auf den zahlreichen Abbildungen der berühmten Pergamenthandschrift oder besser gesagt ihres Silberrahmens mit filigran geschnitzten Elfenbeinplatte überschätzt man die Größe schon mal. Der Wert des Kiliansevangeliars indes: kaum zu überschätzen.
Und dass die Pergamenthandschrift, die aus der Zeit um 600 stammt und die sich seit frühchristlicher Zeit im Besitz der Domkirche zu Würzburg befand, vor vier Jahrzehnten noch in aller Öffentlichkeit einfach so quer durch den Kiliansdom getragen wurde, bei der Amtseinführung von Bischof Paul-Werner Scheele nämlich? Dr. Hans-Günter Schmidt, der Direktor der Universitätsbibliothek und damit Chef-Konservator, schüttelt da heute fassungslos den Kopf: „Undenkbar!“ Und so ruhte, als vergangenes Jahr Franz Jung im Würzburger Dom die Bischofsweihe spendiert bekam, das Kiliansevangeliar selbstverständlich vier Kilometer entfernt weiter sicher, ungestört, geschützt in seinem dunklen Tresor.
Am Dienstag nun hebt Historiker und Handschriftenfachmann Hans-Günter Schmidt mit den weißen weichen Bibliothekarshandschuhen vorsichtig, sehr, sehr vorsichtig den zwei Zentimeter dicken Einband an. Von Aufklappen kann keine Rede sein . . ., aber Würzburgs Bischof soll bei seinem Antrittsbesuch in der Handschriftensammlung, also quasi in der ehemaligen Dombibliothek, wenigstens einmal schräg hineinspicken dürfen ins bedeutende und wertvolle Buch. Und die ziemlich schlichten, schmucklosen Seiten des Evangelien-Kodex betrachten, die von kundiger Hand vor 1500 Jahren in einem Skriptorium in Burgund beschrieben wurden und in denen der irische Missionar im siebten Jahrhundert – sollte er gelebt haben – womöglich tatsächlich las . . .
Der Einband, der über die Blätter weit hervorragt, stammt aus der Zeit um 1500, der Regierungszeit Lorenz' von Bibra. Die eingelassene Elfenbeinplatte, erzählt Handschriftenexpertin Marion Friedlein beim Besuch des Domkapitels, war im 11. Jahrhundert schon im Kloster Michelsberg in Bamberg geschnitzt worden. Ende des 15. Jahrhunderts – „da war das Evangeliar schon Reliquie und Symbol für die Missionierung“ – kam die mit farbigen Steinen und Bergkristallen geschmückte silberne Einfassung dazu.
„Das Buch hat immer gelebt“, sagt Schmidt. Ein Gebrauchsexemplar, keine Prunkhandschrift sei das einst gewesen – „das wird an der angelsächsischen Handschrift mit den angefügten Anmerkungen zum Text deutlich“. Und ob sich wirklich Knöchelchen und Knochensplitter des Apostels und Märtyrers im Einband . . .? Bischof Franz Jung greift zur Brille, beugt sich erneut über den Schatz auf dem Samtkissen und begutachtet genau. „Gerade in diesen für die Kirche bewegten Zeiten ist es wichtig, dass wir uns auf die Tradition besinnen und erkennen, dass Kirche über Jahrhunderte der zentrale Bildungs- und Kulturträger war“, wird er am Ende der Führung sagen.
Für Hans-Günter Schmidt und seine Kollegen ist der Bischofsbesuch ein kleiner interner Auftakt zum großen Jubiläumsjahr: 400-jähriges Bestehen gilt es zu feiern. Die Wurzeln der Universitätsbibliothek reichen mindestens bis ins Jahr 1619 zurück. Denn aus jenem Jahr, sagt Schmidt, gibt es in den Rechnungsbüchern der Universität den Nachweis eines Regalkaufs. Für eine „Newe Bibliotheca“ waren damals offenbar „Buchkästen“ und Pulte angefertigt worden. Und in Eichstätt und Augsburg kaufte man große Nachlassbibliotheken an, die mit Pferdefuhrwerken in Fässern nach Würzburg geholt wurden und die den Grundstock bilden sollten für die mehr als 3,5 Millionen Bücher, Handschriften, Zeitschriften und sonstige Medien, die die UB heute besitzt.
„Wir sind die älteste Universitätsbibliothek in ununterbrochener örtlicher Kontinuität in Bayern und gehören zu den traditionsreichsten in Mitteleuropa“, sagt Schmidt – der Bischof nickt. Die 214 erhaltenen Handschriften des ehemaligen Würzburger Domstifts gehören zu den bedeutendsten in Europa überhaupt. „Darum würden uns die Bibliothèque nationale de France und die British Library beneiden.“ Der UB-Direktor öffnet in freudiger Andacht vorsichtig einen weiteren Schatz, ein unter Bischof Wolfgar Anfang des neunten Jahrhunderts angefertigtes Evangeliar: „Aus Sicht der Wissenschaft sicher unser wertvollstes Stück.“ Farbenprächtige Malerei aus einer Fuldaer Künstlerwerkstatt strahlt dem Besuch entgegen – „Spitzenklasse, das Stück war auf Show gemacht“, sagt Schmidt. Der Bischof müsse sich vorstellen, wie im neunten Jahrhundert im Kerzenschein die Initialen und Bilder funkelten.
Und dann hatte das UB-Team eigens für Franz Jung noch ein Buch aufgeschlagen, das im achten Jahrhundert in einem Kitzinger Frauenkloster geschrieben worden war und in dem der Wahlspruch des Bischofs – „spem ancoram animae“ – zu finden ist. Indes, hübsche Anekdote, mit gleich drei Grammatikfehlern im lateinischen Text des Hebräerbriefs. Schmidt schmunzelt: „Da hat sich der Schreiber der angelsächsischen Minuskel richtig abgearbeitet.“
400 Jahre Universitätsbibliothek: Zum Auftakt des Jubiläumsjahrs gibt es am Freitag, 25. Januar, in der Zentralbibliothek am Hubland um 16 Uhr eine Führung und erste „Entdeckungstour“. Eintritt frei. Und in einer Jubiläumsausstellung ist von 3. Mai bis 30. Juni dann tatsächlich im Lesesaal auch das Kiliansevangeliar öffentlich zu sehen – zusammen mit weiteren Schätzen und den prunkvollsten Stücken, die die UB aus ihren Tresoren holt. Infos: www.bibliothek.uni-wuerzburg.de/400
Die Handschriften der Würzburger Dombibliothek sind komplett digitalisiert und können online frei zugänglich eingesehen werden: libri-kiliani.eu
es ist durchaus begrüßenswert, wenn sich der neue Bischof zum Auftakt des diesjährigen Jubiläumsjahres in die Universitätsbibliothek aufmacht und sich dort über wertvolle Buchbestände informieren lässt. Und die hiesige Universitätsbibliothek hat ja auch einiges zu bieten, übrigens nicht nur für Kirchenmänner und die hohe Geistlichkeit. Es sollte aber einmal ein Normalsterblicher versuchen, mit dem Smartphone private Fotos aus einer altirischen Handschrift zu schießen, dies würde ein sofortiges Eingreifen der im Handschriftenlesesaal tätigen Bibliotheksangestellten nach sich ziehen - und dies völlig zu Recht, den es geht ja um den Schutz eines wertvollen Kulturgutes. Für Bischöfe scheinen hier allerdings andere Regeln zu gelten, was die MAIN POST wiederum dankenswerterweise fotografisch festgehalten hat. So bleibt aus konservatorischen Gründen ein wenig ein Nachgeschmack bei dieser schönen Geschichte zurück.