Es ist angerichtet in Gadheim, dem 80-Einwohner-Ortsteil von Veitshöchheim (Lkr. Würzburg). Wenn man aus dem Maintal hinaufkommt, biegt noch vor dem Ortsschild links ein Feldweg ab. Gut hundert Meter weiter zwischen den Äckern: eine gepflasterte Fläche, ein paar Büsche, drei Fahnenmasten und ein Muschelkalk-Brocken mit eingehauenem Messpunkt: 9 Grad, 54 Minuten und 7 Sekunden östlicher Länge; 49 Grad, 50 Minuten und 35 Sekunden nördlicher Breite. Hier könnte ab dem 29. März der geographische Mittelpunkt der Europäischen Union (EU) liegen. Könnte. Falls der Brexit Wirklichkeit wird. Wenn nicht? Dann eben nicht, dann war alles Pflastern und Pflanzen umsonst. Dann wächst hier künftig wieder Raps.
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Wie weit sind die Festvorbereitungen zur Einweihung des EU-Mittelpunkts? Jürgen Götz (CSU) reagiert ein wenig genervt auf die Frage. "Da rufen Sie mal in London an – und fragen dort nach, am Besten bei Theresa May." Recht hat er, der Herr Bürgermeister. Alle Planungen im Rathaus von Veitshöchheim hängen am Hickhack zwischen Britannien und Brüssel. So ein Festakt zur Feier des EU-Mittelpunkts will gut organisiert sein. Gerne hätte man Ende März Ministerpräsident Markus Söder (CSU) in Gadheim zu Gast, schließlich hat er 2013, damals noch Finanzminister, auch den heute noch gültigen EU-Mittelpunkt in Westerngrund (Lkr. Aschaffenburg) enthüllt. Und vielleicht kommt gar Manfred Weber, der sich für die CSU als künftiger EU-Kommissionschef bewirbt. Vor allem könnten die Gadheimer mal wieder ein zünftiges Dorffest feiern.
Götz: Der Brexit ist ein schwerer politischer Fehler
Verzögert sich der Brexit, könnte man die Fete in den Sommer verlegen. Durchaus machbar. Blöd für die Feierlaune der Gadheimer nur, wenn die Briten den EU-Austritt komplett absagen, sich vielleicht bei einer erneuten Volksabstimmung doch für Europa entscheiden. Obwohl... "Ich bin wirklich hin- und hergerissen", sagt Jürgen Götz. Einerseits hofft der Bürgermeister auf neuen Ruhm für Gadheim und Veitshöchheim, anderseits hält er "als Demokrat und Europäer" den Brexit für einen schweren politischen Fehler. "Die Folgen für die Wirtschaft und die Menschen nicht nur auf der Insel sind noch gar nicht absehbar." Dass der Zusammenhalt in Europa, "der uns 70 Jahre Frieden, Freiheit und Wohlstand gebracht hat", bröckelt, dafür hat der Bürgermeister kein Verständnis.
Jürgen Götz ist sich da einig mit Karin Keßler. Auf dem Acker der 53-Jährigen liegt der mutmaßlich künftige EU-Mittelpunkt. Der Großteil der 1000 Quadratmeter Fläche, die die Gemeinde für die Anlage gepachtet hat, gehört ihrer Familie. Einer Familie – das könnte nicht besser passen – glühender Europäer. Keßlers Vater, Edmund Kilian, ist vor wenigen Tagen 93 Jahre alt geworden. Trotz altersbedingter Gebrechen liest er noch täglich Zeitung und schaut im Fernsehen Nachrichten. Die Debatte um den Brexit verfolgt er mit Kopfschütteln. "Europa bedeutet doch Frieden", sagt er.
Mit 18 Jahren musste Edmund Kilian an die Front
Kilian weiß, wovon er spricht. Gerade mal 18 Jahre alt, muss er 1944 zur Wehrmacht einrücken. Eingesetzt in der Normandie, soll er helfen, den Ansturm der Alliierten aufzuhalten. Zu diesem Zeitpunkt längst ein aussichtsloses Unterfangen. "Aber ich war froh, dass ich nicht an die Ostfront musste." Doch auch im Westen muss der junge Soldat mitansehen, wie Freunde neben ihm im Schützengraben sterben und verwundet werden. "Einfach Glück" ist es, dass der Krieg für Kilian ohne schlimmere körperliche Blessuren in französischer Gefangenschaft endet. Im März 1946 kommt er wieder heim nach Gadheim.
Die Erinnerung an die schlimmen Zeiten indes bleibt. "Er hat uns immer wieder vom Krieg erzählt", berichtet die Tochter. Jeder Schritt, mit dem Europa zusammenwächst und die Kriegsgefahr sinkt, freut Edmund Kilian. Und begeistert hört er zu, wenn Karin Keßler und ihre Söhne später von den Familienurlauben in Frankreich und ihrer Begegnung mit den Franzosen berichten. "20-mal waren wir bestimmt dort, im Norden wie im Süden", so die 53-Jährige. Auch die Stätten in der Normandie, wo der Vater und Opa einst gekämpft hatte, werden besucht. Dass Michael und Philipp, ihre heute 26 und 22 Jahre alten Söhne, in der Schule neben Englisch auch Französisch lernen, ist Keßler im Angesicht der Kriegserlebnisse ihres Vaters ein Herzensanliegen. "Nur so lebt Europa." Dass die Briten von diesem Miteinander genug haben, kann sie nicht verstehen.
Sogar das chinesische Fernsehen berichtet aus Gadheim
Und jetzt wird ausgerechnet Karin Keßlers Rapsfeld der Mittelpunkt Europas. Seit die Messungen des Institut national de l'information géographique (ING) in Paris vor zwei Jahren bekannt wurden, haben sich Journalisten aus ganz Europa für Gadheim interessiert. "Ja, sogar ein Team des chinesischen Fernsehens war da", staunt Bürgermeister Götz. Das Aufstellen der Schilder "Zukünftiger Mittelpunkt der EU", das Pflastern und Pflanzen hat sich schon gelohnt. Und falls der Mittelpunkt demnächst wieder abgebaut werden muss, weil es sich die Briten doch noch anders überlegen, werden die Medien wieder berichten. Und die Gadheimer werden einen Grund zum Feiern haben.