
Für Monika Koch bleibt der Brexit ein "Alptraum". Nachdem die Briten per Referendum entschieden hatten, die Europäische Union zu verlassen, gab sie ihren Traum vom Leben in England auf. Mittlerweile wohnt die 53-Jährige in Maßbach (Lkr. Bad Kissingen). Sarah Durance ist da gelassener: In London hat die 33-Jährige, die aus Schönderling (Lkr. Bad Kissingen) stammt, ihr Glück gefunden. Am 2. Januar kam Sohn Joseph zur Welt. Lange habe der Brexit sie kaum beschäftigt, sagt sie. Doch jetzt, wo Britanniens EU-Austritt vor der Tür steht, mache sie sich schon Gedanken. Ob ihr Sohn Europa je so wird erleben können wie sie und viele andere in ihrer Generation?
Das Nein des britischen Parlaments zu einem Brexit-Deal hat Monika Koch nur bestätigt, dass es richtig war, England im November 2017 den Rücken zu kehren. Über zehn Jahre lebte sie mit ihrer Familie in Snape, einem 600-Einwohner-Dorf in der Grafschaft Suffolk gut 150 Kilometer nordöstlich von London. "Bei einem Urlaub hatten wir uns in die Landschaft und Natur dort verliebt", erzählt Koch, die aus Heilbronn stammt. Sie selbst arbeitete als Vogelschützerin und Anbieterin von Natur-Exkursionen und -Workshops. Für ihre Töchter, heute 20 und 23 Jahre alt, war England Heimat. "Wir hatten dort ein unbeschwertes Leben."
Antieuropäische Stimmen selbst im Freundeskreis
Rund um die Brexit-Abstimmung im Juni 2016 aber sei die Stimmung im Land "gekippt", erinnert sich die 53-Jährige. Das Messerattentat auf die europafreundliche Labour-Abgeordnete Jo Cox, offen fremdenfeindliches Gerede im beruflichen wie im privaten Umfeld: "Es schien so, als ließen die Briten plötzlich alles Schlechte heraus." Selbst im Freundeskreis seien antieuropäische Stimmen laut geworden. Das No-EU-Votum habe sie schließlich "wie gelähmt" wahrgenommen. "Mulmig" sei ihr gewesen, von nun an habe sie sich "ausgegrenzt, regelrecht traumatisiert" gefühlt. Monika Koch: "Das alles ist schwer zu erklären, es ging uns ja nicht ans Leben."
Nachdem ihr damaliger Ehemann, ebenfalls ein Deutscher, sich entschieden hatte, Großbritannien in Richtung USA zu verlassen, habe sie zudem befürchtet, mangels wirtschaftlicher Potenz nach dem Brexit die Aufenthaltsberechtigung zu verlieren. Auch dem wollte sie zuvorkommen, deshalb der Umzug 2017 "irgendwohin aufs Land, wo ich neu anfangen konnte". Für Maßbach entschied sie sich wegen der Nähe zum Biosphärenreservat Rhön. Inzwischen arbeitet Koch im Marketing eines Bad Kissinger Hotels, als Führerin im Freilandmuseum Fladungen – und ehrenamtlich für den Vogelschutz.
Englisches Abitur zählt nicht
Unter dem Brexit leiden derweil auch Kochs Töchter. Louisa, die Jüngere, habe nach dem Abitur bereits in England studiert. Zurück in Deutschland habe sie nun erfahren müssen, dass niemand ihren Abschluss anerkennt. "Jetzt besucht sie als 20-Jährige zwei weitere Jahre das Jack-Steinberger-Gymnasium in Bad Kissingen." Sophia, die Ältere, hat gerade in London ihren Master in Magazin-Journalismus erworben. "Richtiges Land, falscher Pass", so hat sie ihre Gefühle kürzlich gegenüber einer englischen Zeitung beschrieben. Vor einer unsicheren Zukunft ist auch sie nun nach Deutschland geflohen - und sucht jetzt hier Arbeit.

Sarah Durance hingegen hat die Brexit-Debatte lange gar nicht beschäftigt. "London ist so multikulturell, so international", sagt sie, ihre Herkunft habe hier bisher nie eine Rolle gespielt. Mittlerweile sei ihr klar, dass sich das ändern könnte. Die 33-Jährige stammt aus dem 550-Seelen-Dorf Schönderling in der Rhön. Nach dem Abitur hat sie in Berlin und Frankfurt/Oder Kulturwissenschaften studiert, inklusive eines Erasmus-Auslandssemesters im belgischen Lüttich. Am Ende standen der Master in "interkultureller Kommunikation" und der Wunsch, "auch mal woanders zu leben".
Beim Laufen den Mann fürs Leben kennengelernt
Folgerichtig ging es im Mai 2014 zum Arbeiten ("Marketing") im Rahmen des EU-Programms Leonardo ins Ausland, nach Wales. Nach drei Monaten in der Provinz suchte sich die Deutsche einen Job in der Metropole London. Heute ist sie dort für einen Online-Finanzdienstleister tätig. In ihrer Freizeit lernte die begeisterte Läuferin bei einem Wettbewerb ihren persönlichen Marathonmann, John Durance (43), kennen und lieben. Vor einem Jahr haben die beiden geheiratet, seit ein paar Tagen haben sie ihre kleine Familie.
"Mit Nachwuchs wird man nachdenklicher", sagt Sarah Durance. Wenn sie jetzt hört, bei einem No-Deal-Brexit könnte die britische Insel nach dem 29. März ziemlich isoliert dastehen, werde sie schon "ein bisschen nervös". Medien hätten berichtet, das Gemüse in den Geschäften könnte knapp werden. "Die Vorstellung, es gibt nur noch Lammfleisch zu kaufen, ist nicht so toll", sagt sie mit einem Augenzwinkern. Der Gedanke, sich künftig für 65 Pfund Gebühr den "settled status", den Aufenthalt, bestätigen lassen zu müssen, wurmt sie. "Seit fünf Jahren lebe ich hier, arbeite und zahle Steuern wie alle anderen auch." Die Selbstverständlichkeit so vieler Dinge gehe derzeit verloren.
Sorgen um die Zukunft des kleinen Joseph
Auch viele Briten seien verunsichert. Ihre Familie müsse nach der Geburt des Sohnes möglichst schnell in eine größere Wohnung umziehen. Aber niemand in London könne ihnen sagen, so Sarah Durance, wann der richtige Zeitpunkt ist, etwas zu kaufen oder zu mieten. "Alle fragen sich: Werden Immobilien mit dem Brexit günstiger oder teurer?"
Auch die Zukunft des kleinen Joseph beschäftigt die 33-Jährige in diesen Brexit-Tagen. "Seit dem zweiten Weltkrieg ist die Welt für jede Generation größer, weiter geworden." Viele hätten von der Grenzenlosigkeit profitiert, sie ganz besonders. "Krass, wenn plötzlich alles wieder enger wird, abgebaute Grenzen wieder hochgezogen werden." Sie hoffe sehr, sagt Sarah Durance, dass sich ihrem Sohn dereinst die gleichen Möglichkeiten für internationale Erfahrungen bieten wie ihr selbst.
Unterdessen wird Monika Koch nächste Wochenende nach London zur Graduierungsfeier von Tochter Sophia fliegen. Beim Anflug auf den Stanstead Airport seien die Flugzeuge so tief unterwegs, sagt sie, dass sie ihr altes Haus in Snape wird sehen können. "Ein sehr merkwürdiges Gefühl."
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