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GADHEIM
Europas Mitte liegt im Rapsfeld
Die Mitte der Europäischen Union       -  Schlichte Eleganz: Auf diesem Acker von Karin Keßler in Gadheim liegt nach dem Brexit der Mittelpunkt der Europäischen Union.
Foto: A3609/_Daniel Karmann (dpa) | Schlichte Eleganz: Auf diesem Acker von Karin Keßler in Gadheim liegt nach dem Brexit der Mittelpunkt der Europäischen Union.
Michael Czygan
 |  aktualisiert: 07.04.2020 11:14 Uhr

Noch wächst Winterraps auf dem Acker von Karin Keßler. Künftig könnten hier, am Rande von Gadheim (Lkr. Würzburg), Europafahne und Infotafel stehen. Bürgermeister Jürgen Götz will schon bald mit der Landwirtin über die künftige Nutzung des Feldes sprechen. Seit einer Woche steht nämlich fest: Wenn die Briten in zwei Jahren gehen, liegt der geografische Mittelpunkt der Europäischen Union (EU) im 76-Einwohner-Ortsteil von Veitshöchheim.

Ein kleiner Holzpfosten mit rot-weißem Flatterband markiert die Koordinaten, 9 Grad, 54 Minuten und 7 Sekunden östlicher Länge sowie 49 Grad, 50 Minuten und 35 Sekunden nördlicher Breite, vorläufig. Das Vermessungsamt Würzburg will in den nächsten Tagen noch mal nachmessen, bevor sie in Veitshöchheim planen, wie der frische Ruhm erfolgreich vermarktet werden kann. Eine neue WhatsApp-Gruppe im Dorf weist derweil schon mal die Richtung. „Gadheim first“, lautet der Titel.

10000 Neugierige in Westerngrund

Lernen können die Gadheimer von Westerngrund. Die 1900-Einwohner-Gemeinde im Landkreis Aschaffenburg beherbergt den EU-Mittelpunkt seit Juli 2013 – und hat ihn nun nur noch auf Abruf. Gleichwohl hält sich die Trauer in Grenzen. „Wir haben immer gewusst, das ist ein Geschenk auf Zeit“, sagt Bürgermeisterin Brigitte Heim. Den Platz rund um die Noch-EU-Mitte hatten Europa-Fans vor Ort auf einer kleinen Anhöhe eigens hergerichtet, mit Kiesweg, Fahnen, Picknickplatz und Info-Tafeln.

Immerhin rund 10 000 Neugierige hat die Erinnerungsstätte in dreieinhalb Jahren angelockt, schätzt die Bürgermeisterin nach Auswertung von mittlerweile acht „Gipfelbüchern“, wie sie die Gästebücher liebevoll nennt. „Ich wollte diesen Punkt mal sehen! Bevor Großbritannien aus der EU raus ist und der Mittelpunkt sich wieder verschiebt. Ein tolles Fleckchen Erde hier“, hat dieser Tage ein Besucher geschrieben. Viele sind von weither gekommen, aus 40 verschiedenen Ländern. „Australier, Chinesen, Mongolen. Weniger aus der direkten Umgebung“, weiß Brigitte Heim. Also, hat sich der Ruhm gerechnet? „Schwer zu sagen, wir haben ja kein größeres Hotel hier“, gibt die Bürgermeisterin zu bedenken.

Und da wären noch die vielen hundert Bierkrüge im Keller des Rathauses, bemalt mit den Symbolfiguren „Lump“ und „Zwüwwel“ und der Aufschrift „Westerngrund – Mittelpunkt der EU“. Bald schon werden sie wertlos sein. Oder als Flohmarkt-Rarität ganz besonders begehrt.

Klage über EU-Verdrossenheit

Für Dieter Schornick ist das Kinderkram. Viel schlimmer sei, dass die Briten die EU verlassen. Auch hierzulande sei die EU-Verdrossenheit „leider“ viel zu groß. Schornick war Vorsitzender der ehrenamtlichen „Interessensgemeinschaft EU-Mittelpunkt“, doch er hat aufgegeben. „Für die Leute in Westerngrund ist Europa weit weg“, klagt er. Lieber engagiert er sich weiter in Aschaffenburg an Schulen und Hochschule für die europäische Idee. Das sei erfolgsversprechender. „Ich wünsche Gadheim, dass die Gemeinde dort mehr unternimmt als Westerngrund.“

An Bürgermeister Jürgen Götz wird es nicht scheitern. Das erste Echo hat ihn schon freudig überrascht. Neben zahlreichen deutschen Medien durfte er auch BBC und „Guardian“ Interviews geben. Natürlich, so sagt er, wolle die Gemeinde die frisch gewonnene Aufmerksamkeit nutzen. Aber mit Bedacht – „und vor allem mit den Bürgern“. Nächste Woche will Götz zum Stammtisch nach Gadheim kommen. Wo sich sonst zehn, zwölf der 76 Gadheimer treffen, dürften es dann ein paar mehr werden. Gemeinsam mit ihnen will der Bürgermeister Ideen sammeln, wie man den EU-Mittelpunkt anpreisen könnte. Mit Info-Tafel und Fahnen, mit Ruhebänken und Picknicktisch so wie in Westerngrund? Götz: „Warten wir's ab.“

Veitshöchheim – europäisch durch und durch

Der Bürgermeister hat jedenfalls schon mal zusammengetragen, wie europäisch Gadheim und Veitshöchheim denken – und handeln. Seit über 50 Jahren schütze die Bundeswehr den europäischen Frieden, Veitshöchheim habe gleich drei EU-Partnergemeinden, der europäische Jakobsweg führe hier vorbei, der Ortspatron, der heilige Vitus, stamme aus Sizilien und sei Europäer durch und durch. Und dann sei da noch die „Mittel-Europäische Gasleitung“, die zentrale Versorgungspipeline für den Kontinent.

Götz: „Die verläuft nicht mal 50 Meter vom EU-Mittelpunkt entfernt ebenfalls durch Gadheim.“ Will sagen: Ein besserer Ort für den EU-Mittelpunkt hätte sich kaum finden lassen.

Jetzt müssen sie in Gadheim nur hoffen, dass der Ruhm nicht allzu bald wieder vorüberzieht. Zwei Jahre dauert's nämlich noch bis zum endgültigen Brexit. Nicht auszudenken, falls bis dahin die Schotten doch in der Europäischen Union bleiben wollen. Oder Serbien dazukommt. Oder ein anderes Land aussteigt. Mit Informationen von dpa

Die Mitte der Europäischen Union       -  Landwirtin Karin Keßler und Bürgermeister Jürgen Götz präsentieren in Gadheim die Europaflagge.
Foto: Daniel Karmann, Nicolas Armer, dpa | Landwirtin Karin Keßler und Bürgermeister Jürgen Götz präsentieren in Gadheim die Europaflagge.
Westerngrund - die Noch-Mitte der Europäischen Union       -  Westerngrund verliert mit dem Brexit den EU-Mittelpunkt.
Foto: A4488/_Nicolas Armer (dpa) | Westerngrund verliert mit dem Brexit den EU-Mittelpunkt.
 
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