Es ist der 13. Juli 1968, zwei Uhr nachts: Drei Autos halten in der Würzburger Weingartenstraße. Junge Leute springen heraus, machen sich durch den Ringpark auf den Weg zur Neuen Uni. Vor dem Hauptportal setzen sie an: Auf Kommando schleudern sie Pflaster- und Ziegelsteine gegen die Eingangstüren. Die Scheiben zerbersten. Am nächsten Morgen ist die Aufregung groß. Der studentische Aufruhr hat Würzburg erreicht. Oder vielleicht doch nicht?
Besetze Hörsäle, Straßenblockaden, Demos: Vor 50 Jahren lehnten sich Studenten auf gegen verkrustete Gesellschaftsstrukturen, gegen die Verdrängung der NS-Vergangenheit, gegen Vietnamkrieg und Atomwaffen – sie kämpften für sexuelle Befreiung, für Selbstbestimmung, für Mitspracherechte an den Universitäten. Die „68er“ haben Deutschland mit ihrer Protestwelle gegen das Establishment verändert. Zweifellos. Aber wie ursächlich für den gesellschaftlichen und politischen Wandel waren sie tatsächlich?
Wie stark haben die 68er die Gesellschaft beeinflusst?
Mehr als linke Ideologien habe die Anti-Baby-Pille den sexuellen Aufbruch befördert, argumentieren die einen. Andere beschwören einen nachhaltigen Einfluss der 68er Proteste auf Politik und Kultur, der sich in der Ostpolitik Brandts, der späteren Gründung der Grünen und – als negative Folge – in der Radikalisierung durch die RAF niedergeschlagen habe.
Galionsfigur der Revolte: Studentenführer Rudi Dutschke als wortgewaltiger Exponent des Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS). 1946 unter dem Dach der SPD gegründet, wurde die Gruppe nach interner Spaltung 1961 von der Partei ausgeschlossen. In der Folge streitet der SDS für einen antiautoritären Sozialismus und ist Motor der Außerparlamentarischen Opposition (APO) in der Zeit der Großen Koalition von 1966 bis 1969. Intellektuell gestützt werden die 68er von der "Frankfurter Schule" um die Philosophen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer.
Radikalisierung nach dem Tod von Benno Ohnesorg
Nach den tödlichen Schüssen auf Student Benno Ohnesorg bei Protesten gegen den Schah-Besuch in Berlin Anfang Juni 1967, vor allem aber nach dem Attentat auf Dutschke am 11. April 1968 verschärfen sich die Proteste, werden gewalttätiger. In etlichen Uni-Städten – voran Berlin, Frankfurt und München – kommt es zu Unruhen und Auseinandersetzungen mit der Polizei. Und in der Hochschulstadt Würzburg?
Bezeichnend ist ein Beitrag von Ludwig Pitter in der Studentenzeitschrift „Semesterspiegel“ vom Juli 1967. Darin berichtet er über einen Freund, der aus Berlin kommend die Revolution in Würzburg in Gang bringen will – was gehörig in die Hose geht: Bei einer Studentenverbindung wird er ausgelacht. Seine Mao-Lesung im Bierzelt interessiert niemanden – stattdessen füllt man den Berliner Import-Revoluzzer ab. Und als ihn die Polizei in dem mit sozialistischen Parolen beschmierten VW-Bus einer Freundin anhält? Da weisen ihn die Polizisten auf zwei platte Reifen hin und bieten Hilfe an. Bei so viel Friedlichkeit kehrt der Aktivist frustriert nach Berlin zurück und wird mit den Worten zitiert: „Es ist ein Jammer in Würzburg!“
Würzburger Gemütlichkeit war stärker als die Aufmüpfigkeit
Auch Franz Barthel, damals junger Journalist für die Main-Post, erinnert sich an wenig revolutionär anmutende Momente – etwa eine Demonstration hinauf zur US-Kaserne, den Leighton Barracks. Die Studenten protestieren gegen den Vietnam-Krieg: „Oben angekommen, waren die meisten Teilnehmer so kaputt, dass viele das Angebot der Polizei gerne nutzten – und in Streifenwagen zurück in die Stadt gefahren sind.“
Oder ein Sit-in Ende Mai 1968, nachdem der Sozialdemokratische Hochschulbund (SHB) anlässlich der Verabschiedung der Notstandsgesetze im Bundestag zur Spaziergangsdemo aufgerufen hatte. Am Ende hockt eine kleine Gruppe samt „miniberockter Damen“ auf den Straßenbahngleisen am oberen Markt. Sitzend werden Parolen skandiert, berichtet die Main-Post, bis sie nach wenigen Minuten vom Hupen ungeduldiger Autofahrer übertönt werden.
Einzelne Aktionen auch an der Würzburger Uni
Immerhin: Nach dem Tod Benno Ohnesorgs rufen am 7. Juni 1967 einige Studentengruppen auch in Würzburg zu einem Schweigemarsch auf – 500 Teilnehmer folgen ihm, darunter Assistenten und Professoren. Bisweilen spüren die jungen Protestler für ihre Forderungen sogar stille Sympathie bei den Ordinarien.
Das erste Go-in ihrer jüngeren Geschichte hatte die Würzburger Uni am 19. Januar 1968 erlebt: Nach Beschwerden von Kursteilnehmern über rassistische Äußerungen, ungerechte Benotung und Nötigung durch einen Dozenten dringen laut Main-Post-Bericht 30 Studenten im Gänsemarsch in einen Hörsaal ein und versuchen, den kritisierten Professor in eine Diskussion zu verwickeln – worauf dieser die Vorlesung abbricht.
In Würzburg stand die Hochschulpolitik im Mittelpunkt
Für seine Examensarbeit hat Geschichtsstudent Martin Ruda solche Episoden der 68er in Würzburg untersucht und deutschlandweit verglichen. Er hat Veröffentlichungen und Akten im Universitätsarchiv gewälzt. Sein Fazit: Würzburg könne als Ort gelten, „an dem die Unruhen den ruhigsten Verlauf nahmen.“
Im Universitätsarchiv, das seit 2009 am neuen Campus Nord aufgebaut wird, lagern etliche Dokumente und Briefwechsel zur 68er Bewegung an der Uni Würzburg. Man hofft auf weitere Zugänge, auch aus privaten Nachlässen. Archivleiter Marcus Holtz und Mitarbeiterin Mareile Mansky sprechen von der „Würzburger Gemütlichkeit“: Die Proteste 1967/68 seien recht gemäßigt und gesittet verlaufen.
Was nicht heißt, dass hier nicht gestritten worden wäre. Nur: Man begab sich weniger in ideologische Kämpfe und gesellschaftspolitische Fundamentaldebatten. Nicht ein politisches Mandat der Studentenschaft war vorrangig, stattdessen ging es um die Verbesserung der Studienbedingungen und um mehr Mitsprache. Hierfür konnte kräftig mobilisiert werden: So gingen im Juni 1969 rund 2000 Demonstranten gegen CSU-Pläne für ein neues Hochschulgesetz auf die Straße, mit 7000 Streikenden stand Würzburg plötzlich bayernweit an der Spitze.
Umstrittene Universitätssatzung: Studenten besetzten das Audimax
So etwas wie ein revolutionäres Flämmchen war zuvor nur einmal aufgeflackert. Es ist der 11. Juli 1968, als der Große Senat in nichtöffentlicher Sitzung im Audimax die neue, von Studierenden kritisierte Universitätssatzung verabschieden will – wozu es nicht kommt. Schon in der Nacht wurden Barrikaden aus Tischen und Bänken errichtet, per Megaphon wird die Vorlesung einer als konservativ geltenden Professorin „gesprengt“.
Am Nachmittag dann ziehen nach Aufruf des Allgemeinen Studentenausschusses (AStA) rund 700 Studierende von der Residenz zur Neuen Universität. Ihr Ziel: Die Sitzung des Großen Senats. Laut Main-Post-Bericht werden gleich zu Beginn Sprüche skandiert wie „Unsere Professoren, die letzten Diktatoren“ oder „Haut den Professoren die Satzung um die Ohren!“. Dann dringen rund 400 Studenten ins Audimax ein, es kommt zu Beleidigungen und Handgreiflichkeiten.
SDS war in Würzburg nur eine kleine Gruppe
Die Studenten besetzen den Hörsaal. Mitten unter ihnen: der heutige Rechtsanwalt und Pädagoge Prof. Arnold Köpcke-Duttler. Er gehörte zur Würzburger SDS-Gruppe, die hier nur aus einer Hand voll Aktivisten bestand und bald zersplitterte wie der SDS im Bund. „Bei der ganzen Rechthaberei wollte ich nicht mehr mitmachen“, blickt der 75-Jährige zurück.
Köpcke-Duttler war einer der intellektuellen Köpfe der 68er in Würzburg, schon damals kaum ohne Bücher anzutreffen. Als Mitglied der Juristen-Fachschaft muss er erfahren, dass sich die meisten Studenten lieber auf das vorgegebene Studium konzentrieren als Politik machen wollen. Bücher statt Notstandsgesetze, Sommerfeste statt Proteste.
Köpcke-Duttler: Anzeige wegen Hausfriedensbruchs
Einem wie Köpcke (damals noch ohne Doppelnamen) reichen kosmetische Verbesserungen nicht: „Wir wollten im Kern des Studiums etwas verändern.“ Dazu zählen für ihn Qualität und Inhalte des Studiums ebenso wie die Drittelparität, die Besetzung der Uni-Gremien zu je einem Drittel aus Dozenten, Assistenten und Studierenden. Für derart einschneidende Reformen findet der angehende Jurist keine Mehrheit bei den Kommilitonen – und wird wieder abgewählt.
Die Hörsaal-Besetzung des 11. Juli 1968 („Wir haben die Öffentlichkeit der Sitzung gefordert“) hat für ihn ein persönliches Nachspiel: Als Rädelsführer bekannt, werden Köpcke und vier weitere Studenten wegen Hausfriedensbruch und Nötigung angezeigt. Das Verfahren wird später eingestellt, der Beschuldigte profitiert wie andere Würzburger „Aufrührer“ von der durch SPD-Kanzler Willy Brandt und der sozialliberalen Bundestagsmehrheit 1970 erlassenen Amnestie (Straffreiheitsgesetz).
Türen am Uni-Hauptportal mit Steinen eingeworfen
Darunter dürfte auch der Steinwerfer gefallen sein, den die Polizei am 13. Juli 1968 fasst: Der 22-jährige Ingenieurstudent – Mitglied der Humanistischen Studenten-Union und zuvor im SDS – gibt zu, nachts die Eingangstür der Neuen Uni zertrümmert zu haben. Seine Mitstreiter verrät er nicht.
Fünf Tage bleibt die Universität nach der Besetzung am 11. Juli geschlossen, dann verabschiedet der Senat die Universitätssatzung in der Aula der Alten Uni, abgeriegelt von einer Hundertschaft der Bereitschaftspolizei.
Kreative Aktion: Gummibärchen statt Gummiknüppel
Draußen verteilen Demonstranten Gummibärchen an Polizisten – als Alternative zu Gummiknüppel. Und „Würzburgs Dutschke“ (Abendzeitung), SHB-Vorsitzender Thomas Neiss, bietet vorbeigehenden Professoren Cola an – nachdem der designierte Uni-Rektor Walther Habscheid linke Gruppierungen als „humorlose Coca-Cola-Trinker“ bezeichnet haben soll.
Humorlos und entschlossen waren Vorkämpfer wie Köpcke-Duttler tatsächlich – wenn es um die NS-Verstrickung von Professoren ging. „Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren“: Die Botschaft des im November 1967 von Studenten in Hamburg enthüllten Transparents kam auch in Würzburg an. „Wir trafen jeden Tag auf Professoren, die eine heftige Karriere in der NS-Zeit hingelegt hatten“, erinnert sich Jurist Köpcke-Duttler.
Professoren auch an der Uni Würzburg mit NS-Verstrickung
Und er stand dagegen auf: Mit der selbst formierten Basisgruppe Justiz deckten kritische Studenten die Nazi-Vergangenheit von Rechtswissenschaftlern wie Hermann Raschhofer, Günther Küchenhoff und anderen auf, suchten die direkte Auseinandersetzung.
Sie legten deren nationalistische, NS-treue Schriften in der Mensa aus, auch die rassistische Dissertation von Oberbürgermeister Helmuth Zimmerer. Eine provokante Aktion, die bei den braven Würzburger Studenten überwiegend auf Ablehnung stieß. „Wir wollten die Diskussion in Gang bringen“, so Köpcke-Duttler. Das gelang bedingt – die Professoren blieben in ihren Funktionen.
Walter Kolbow: Einsatz für Reformen hat sich gelohnt
Ebenfalls unter den Demonstranten bei der Senatsaktion am 11. Juli 1968, aber nicht unter den eigentlichen Hörsaal-Besetzern, befand sich Walter Kolbow, 29 Jahre Bundestagsabgeordneter für die SPD. Zusammen mit seinem späteren Parteikollegen Hans-Werner Loew hatte er den SHB in Würzburg gegründet. Das Engagement, findet er heute, war nicht umsonst.
Durch den Druck der 68er sei die Uni studentenfreundlicher geworden, auch gerechter in der Beurteilung von Leistungen. Studierende würden stärker einbezogen. Ja, sagt Mareile Mansky aus dem Uni-Archiv: Die Hochschule hat sich damals zumindest in kleinen Schritten auf die Studierenden zubewegt. Sie erkämpften sich etwa Einsicht in die Tagesordnungen und mehr Beteiligung an den Senatssitzungen.
Kolbow wollte Reformen, rebellisch war er nicht. „Ich wollte die Dinge in der Evolution ändern, nicht in der Revolution.“ Ein Haltung, mit der er für die große Mehrheit der 68er Studenten in Würzburg steht.