Haben die 68er mit ihrem Protest die autoritäre Ära Adenauer endgültig beendet? Leiteten sie die neue, liberale Zeit in der Bundesrepublik ein? Antworten gibt an diesem Samstag eine Tagung des Lehrstuhls für Neueste Geschichte an der Universität Würzburg. Als Referent geladen ist auch der Bonner Politologe Professor Gerd Langguth.
Prof. Gerd Langguth: Die 68er Revolte wurde von jungen Menschen geprägt, die neue Lebensentwürfe gesucht und auch gefunden haben. Allerdings wurden die „außerparlamentarische Opposition“, die APO, und die Bewegung an sich zum Teil bis heute mythologisiert. Die Verteidiger des Mythos 1968 gehen emphatisch davon aus, erst mit der Studentenrevolte habe es einen Kulturbruch in Deutschland, die Überwindung einer grauen Adenauer-Ära, gegeben. Das ist nachweislich falsch, denn schon ab den sechziger Jahren gab es wichtige gesellschaftliche Änderungen. Neue musikalische Formen wie die Beatles hatten zudem schon längst ihr Millionenpublikum erobert, die sich schnell verbreitende Anti-Baby-Pille sorgte in aller Welt für einen liberaleren Umgang mit der Sexualität.
Langguth: Das ist sehr unterschiedlich. Es gibt manche, die die 68er Bewegung bis heute sehr positiv besetzen und ihre Identität in ihr finden. Das sind – nebenbei bemerkt – viele Redakteure in Feuilletons, die damals in der Bewegung dabei waren. Und andererseits sind es natürlich die politischen Gegner, vor allem aus der Union kommend, wo viele sagen, die 68er Revolte hat Pflicht- und Akzeptanzwerte wie berufliche Karriere, Disziplin, Fleiß, Leistungsbereitschaft, Recht und Ordnung verändert. Unter „Mythos“ verstehe ich, dass manche nur über die positiven Veränderungen seit 1968 sprechen, die problematischen Seiten, etwa eine zunehmende Radikalisierung, die es auch gab, aber gerne verdrängen.
Langguth: Er muss zunächst wissen: Die 68er Bewegung tat sich schon Mitte der 60er Jahre in Berlin auf. Das damalige West-Berlin war immer ein Laboratorium für künftige Entwicklungen in Deutschland. Zu Beginn war es eine linksliberale Bewegung, keineswegs gab es zu Beginn bei allen schon eine politisch-radikale Grundhaltung. Es war vielfach ein vager Protest, gegen alles. Nachdem es zur politischen Auseinandersetzung, auch zu Polizeieinsätzen und damit zur Verbrüderung der Demonstranten kam, wurde die Bewegung immer extremer und linksradikaler.
Langguth: Man muss wissen: Der Tod Benno Ohnesorgs bei der Schah-Demonstration am 2. Juni 1967 in Berlin hat zu einer gewaltigen Identifikation der 68er untereinander geführt. Auch das Attentat auf den legendären SDS-Führer Rudi Dutschke im April 1968 muss genannt werden. Für viele der 68er war es der angeblich „faschistoide“ Staat, der solches möglich machte. Das führte zu einer riesigen Solidarisierung vor allem bei den Studenten. Die Revolte war eine große Herausforderung – insbesondere für die Hochschulen.
Langguth: Nach einer Umfrage von damals haben bis zu 70 Prozent der Oberschüler und Studenten die Ziele des SDS, des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, für richtig gehalten. Dieser Studentenverband hatte einst der SPD nahegestanden und radikalisierte sich immer mehr, weshalb sich die SPD von ihm distanzierte. Der SDS hatte die Führungsfunktion in der 68er Revolte übernommen. Und man muss sehen: Zwischen 1966 und 1969 regierte in Deutschland mit einer Mehrheit von etwa 90 Prozent die Große Koalition aus CDU, CSU und SPD. Das hat noch zusätzlich viele irritiert, weil man keine starke Opposition mehr sah. Bei weiten Teilen der jungen Generation herrschte ein tiefes Misstrauen gegen den Staat. Man sagte, wenn die Regierung zusammen 90 Prozent im Parlament hat – die FDP, als Einzige in der Opposition, lag bei knapp zehn Prozent –, dann ist die Demokratie gefährdet. Und ein riesiger Aufreger waren die sogenannten Notstandsgesetze, über die heute kein Mensch mehr spricht.
Langguth: Sie wurden von den Gegnern propagandistisch abgekürzt als „NS-Gesetze“ bezeichnet. Sie wurden als Zeichen einer zunehmenden „Faschisierung“ der Bundesrepublik interpretiert. Viele glaubten auch tatsächlich daran. Im Kampf gegen die Notstandsgesetze waren sich alle in der deutschen Linken einig. Als im Laufe der Großen Koalition die Notstandsgesetze durch den Bundestag verabschiedet wurden, brach dann Ende der sechziger Jahre die Protestbewegung in sich zusammen, weil man das Ziel der gemeinsamen Ablehnung verfehlt hatte. In der Folge spaltete sich die Protestbewegung in undogmatische Linke, dogmatische kommunistische Gruppen, Autonome, Trotzkisten, anarchistische Gruppen. Es gab auch eine Tendenz zur Parlamentarisierung, was später zur Parteigründung der Grünen führte. Wenn sich eine Bewegung vor allem gegen etwas richtet – „Verweigerungsrevolution“ sagte Dutschke dazu –, kann sie eine große Integrationsfähigkeit entwickeln. Wenn sie jedoch gezwungen wird, das zu benennen, für was sie positiv kämpft, kommen sehr schnell die Unterschiede in den Zielen zum Vorschein.
Langguth: Die Bewegung ging in Deutschland eigentlich außerhalb der Studentenschaft nie richtig auf die breitere Gesellschaft über. Sie erreichte zwar einige Intellektuelle, dann die Oberschüler, auch in kleineren Städten. Aber was man wollte, eine Koalition insbesondere mit der Arbeiterschaft – das funktionierte nicht. Der SDS und die Folgegruppen gaben zwar vor, im Namen der „Arbeiterklasse“ zu sprechen, aber es ist ihnen überhaupt nicht gelungen, die Arbeiter zu politisieren.
Langguth: Das ist schwer zu sagen, denn genau darüber ist ja ein Mythos entstanden. Sicherlich hat die 68er Revolte so etwas wie Frischluft in unsere Demokratie gebracht. Das war damals auch notwendig. Unsere Demokratie hat sich zweifellos seitdem verlebendigt. Man muss bedenken: Die 68er Revolte fand etwa 20 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges statt. Wie sind heute 40 Jahre davon entfernt. Es waren ganz andere Zeiten. Die Frage der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, mit der Eltern- und Großelterngeneration, spielte eine große Rolle. Die 68er haben sich immer zugutegehalten, diese Auseinandersetzung vorangetrieben zu haben. Aber in Wahrheit geschah die Beschäftigung, die Aufarbeitung mit dem Nationalsozialismus längst vorher. Vielleicht nicht genügend.
Langguth: Das sehe ich trotz der viel zitierten „Piraten“-Partei im Moment nicht. Wir haben ja eine permanente Veränderung unserer Republik. Dass in meinem Heimatland Baden-Württemberg jetzt ein Grüner Ministerpräsident ist, wäre noch vor zehn Jahren als eine unerfüllbare Utopie abgetan worden. Und ich denke, dass heute die Erkenntnis für die Notwendigkeit sozialen Wandels stärker verbreitet ist als das noch 1968 in der deutschen Elite der Fall war. Sind Sie überrascht?
Langguth: Klar. Aber über die wird heute stark und breit diskutiert, auch durch Nichtregierungsorganisationen, die es früher nicht gab. Wir haben heute eine vollständig andere Situation, und nicht zuletzt eine andere Generation. Wir erleben nicht mehr Glaubenskriege, wie das noch zu meiner Studentenzeit der Fall war. Leidenschaftliche Diskussionen um Utopien und Ideologien spielen heute keine Rolle mehr. Die diskutierten Lösungsansätze sind heute weitaus pragmatischer.
Langguth: Das ist schwer zu beantworten. Nach meinem Dafürhalten spielten die 68er zwar eine wichtige Rolle. Und das Jahr 1968 ist eines der wichtigen Daten der Nachkriegsgeschichte. Aber die 68er haben in der Gesellschaft weniger verändert als sie wollten. Manche Veränderungen in der Gesellschaft kamen durch die Studentenrevolte schneller, aber sie wären wohl auch so gekommen.
Langguth: Ja, auch die „Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen“ und die Lockerung der Sexualmoral werden ihnen zugeschrieben. Aber was die sexuelle Revolution anbetrifft, hat die Anti-Baby-Pille als solche viel größere Auswirkungen gehabt als die ideologischen Auseinandersetzungen – und längst vor den Studentenprotesten. Der kulturelle Umbruch setzte sehr viel früher ein und war ein Humus der Studentenrevolte. Diese konnte auf den einsetzenden Umbrüchen aufbauen und hat dadurch ihre eigene Dynamik gewonnen und kulturelle Entwicklungen beschleunigt.
Langguth: Inzwischen ja. Sie werden schon stark historisiert. Aber interessanterweise gibt es relativ wenig geschichtswissenschaftliche Analysen über sie, manche „Ehemalige“ haben Analysen und Zeitzeugenreports geschrieben. Erst jetzt, nachdem die Revolte über 40 Jahre zurückliegt, beginnt allmählich eine Auseinandersetzung der Historiker damit. In der zeitgeschichtlichen Aufarbeitung an den Universitäten und sonstigen wissenschaftlichen Institutionen ist noch ein eindeutiges Defizit zu vermelden. Ich finde dies frappierend, weil sich Historiker häufig sonst zu vielem äußern. Die Würzburger Tagung ist eine der sehr wenigen, aus meiner Sicht positiven Ausnahmen, wo sich Historiker mit diesem Phänomen befassen.
Professor Gerd Langguth
Der Publizist und Politikwissenschaftler, 1946 in Wertheim am Main geboren, lehrt als Honorarprofessor an der Universität Bonn. Langguth veröffentlichte unter anderem das Buch „Mythos '68. Die Gewaltphilosophie von Rudi Dutschke. Ursachen und Folgen der Studentenbewegung“. Während seines Studiums war Langguth von 1970 bis 1974 Vorsitzender des Rings Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS). Zwischen 1993 und 1997 leitete der ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete als geschäftsführender Vorsitzender die Konrad-Adenauer-Stiftung. FOTO: DPA