Einen „archetypischen Achtundsechziger“ nennt er sich. Und dann verblüfft Gerd Koenen mit der Frage: „Was war denn 68?“ Ja, wenn er's nicht weiß, er, der seinerzeit mittendrin war – wer dann?
Natürlich ist Koenens Frage provokant gemeint. Der Frankfurter Historiker und Autor („Das rote Jahrzehnt“) sitzt in Würzburg in einem italienischen Restaurant und philosophiert über das, was gemeinhin mit dem Etikett „1968“ versehen wird. Anders als 1949 (Gründung der Bundesrepublik) oder 1989 (Mauerfall) sei 1968 kein markantes Datum. „Was war 1968, was nicht auch 62, 63 oder 77 gewesen wäre?“ fragt Koenen, rhetorisch, über Bruschetta und kleines Pils hinweg. Die Schlagworte „1968“ und „Achtundsechziger“ seien erst Anfang der 80er Jahre geprägt worden – als „Sprachformel“ für wesentlich umfassendere Ereignisse: „68 war ein Schnittpunkt vieler Entwicklungen“, sagt der promovierte Geschichtsforscher.
Diese Entwicklungen hätten nicht nur 1968 stattgefunden, sondern sich bis in die Siebziger gezogen. Und sie hätten schon zehn Jahre vor 68 begonnen: 1958 hatte sich in Deutschland eine Bewegung gegen die Stationierung von US-Atomwaffen formiert.
Die Stones lieferten den Soundtrack
Die Jugendrevolte Ende der Sechziger sei weniger Anlass eines „allgemeinen Umbruchs“ sondern vielmehr dessen Produkt gewesen, glaubt Koenen. „Es ist kein einfaches Phänomen. Es hatte was zu tun mit Reibungen zwischen der Kriegs- und Wiederaufbaugeneration und den Jungen.“ Die Jungen hätten gefürchtet, Faschismus und Krieg könnten wiederkommen: „Der Faschismus lauerte hinter jeder Ecke.“ Man misstraute deswegen den Eltern – der Weltkriegs- und Nazigeneration. Auch, weil mancher Ex-Nazi auch in der neuen Republik auf einem hohen Posten hockte.
Man schaute sich in Europa um und sah auch da wenig Grund zu Optimismus: Ost-West-Konfrontation, atomare Hochrüstung, Mauer. Man blickte auf die USA, die in Vietnam Krieg führten („was hatten die da zu suchen?“). Das Woodstock-Festival, heute mit seinem romantischen Bild von Hippies, Hasch und freier Liebe gerne als Chiffre für das Lebensgefühl der Achtundsechziger hergenommen, fand 1969 „im Schatten des Vietnamkriegs statt“, so Gerd Koenen.
Es musste sich etwas ändern. Die Jugend ging auf die Straße. Nicht nur in Deutschland, auch in Frankreich und Italien, in Japan und den Vereinigten Staaten. Die Rolling Stones forderten in ihrem 68er Hit „Streetfighting Man“, es sei Zeit für eine Palastrevolution und lieferten den Soundtrack für aufmüpfige, milchgesichtige Schüler, langhaarige Studenten und bärtige Künstler. Auch die Beatles surften auf der Zeitgeist-Welle und sangen 1968 von „Revolution“ – allerdings wesentlich sanfter als die aggressiven Stones.
Oberflächlich gesehen, überlegt Gerd Koenen, hätte es gar keinen Grund zur Revolte gegeben. „Keiner anderen jungen Generation standen die Türen so offen. Es war die am besten situierte Jugend des 20. Jahrhunderts.“ Aber das war nicht genug. Man wollte nicht so sein wie die Alten. Die Jugend wehrte sich dagegen, von ihren Eltern in ein Lebensschema gepresst zu werden: Bürojob, Sparbuch, Heirat, Eigenheim, Spießigkeit – bloß nicht angepasst sein! Auch die spießigen Alten hatte ihren Soundtrack: 1968 krähte sich Heintje mit „Mama“ an die Spitze der Hitparade.
Vielen jungen Revoluzzern ging's gar nicht in erster Linie um Politik. Es ging ganz generell um ein Lebensgefühl. „Es war so eine Explosion von Lebensenergie“, erinnert sich Koenen und: „Wir wollten alles ändern.“ Was, so denkt der Historiker heute, „zugleich die Schwäche und die Stärke der Bewegung war.“ Ziele waren nicht wirklich zu fassen.
Gerd Koenen selbst ging es vor allem um Politik, um das Verändern der Gesellschaft. Der heute 73-Jährige, der deutlich jünger wirkt, hatte sein persönliches „Erweckungserlebnis“ – er sagt es mit leicht ironischem Unterton – am 2. Juni 1967. An jenem Tag wurde der Student Benno Ohnesorg bei einer Demonstration in West-Berlin von einem Polizisten erschossen. Er war schockiert. „Da gab es plötzlich so eine Trennung: Man sah das so, dass das Establishment auf die demonstrierende Jugend geschossen hatte, die ja ein gerechtes Anliegen hatte – nämlich gegen den Schah-Besuch zu protestieren.“
Das rote Jahrzehnt
Koenen engagierte sich links, im Sozialistischen Deutschen Studentenbund, im Kommunistischen Bund Westdeutschland und ruinierte sich eine akademische Karriere. Später wurde er zum Kommunismuskritiker.
Für Deutschland hatte das mit dem Etikett „68“ versehene Ereignisbündel Folgen. Koenen spricht vom „roten Jahrzehnt“ zwischen den Schüssen auf Benno Ohnesorg 1967 und den Schüssen in Stammheim 1977. In der Nacht zum 18. Oktober 1977 starben die Anführer der Terrorgruppe „Rote Armee Fraktion“, Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan Carl Raspe im Gefängnis durch Suizid. Nach der Großen Koalition (1966 bis 1969) regierte in Deutschland eine SPD-geführte – also „rote“ – Koalition (bis 1982). Koenen versteht das durchaus als Folge eines Linksrucks durch die sogenannten Achtundsechziger. Auch die Grünen seien eine Spätfolge der Jugendrevolte. Die Gesellschaft sei offener geworden.
Also: Was war nun 1968? Gerd Koenen, der auf Einladung der Domschule und des Mainfranken Theaters in Würzburg einen Vortrag über das Phänomen hielt, kann keine simple Antwort liefern. Er pflegt ein komplexes Geschichtsbild. Denn Geschichte folgt in der Realität nicht simplen, kausalen Linien. So etwas gibt's höchstens im Weltbild modernere Populisten.