Das sind Spinner, das sind Exoten, die sind verrückt: Wandergesellen müssen mit Klischees dieser Art klarkommen. Kein Wunder, denn keine Sparte der Wirtschaft hat eine derart ungewöhnliche Gepflogenheit wie das Handwerk mit der Walz. Es ist eine tief in der Geschichte verwurzelte Herausforderung, die auch heute noch Junghandwerker suchen. Dieser Schwenk im Lebenslauf bringt ihnen eine Menge Erfahrungen, die andere Handwerker nicht haben.
Wanderjahre sind wieder populär geworden
Die Walz „ist wieder populär“, ist Hermann Lang überzeugt. Der Zimmermeister in Ochsenfurt ist auch Obermeister der Zimmererinnung für Würzburg-Stadt und -Land. 65 Lehrlinge betreut seine Innung im Schnitt pro Jahr, ein bis zwei von ihnen gehen nach der Lehre auf die Walz, wie die Wanderschaft üblicherweise heißt. Diese Quote „war vor zehn Jahren noch kleiner“, weiß Lang. Zurückgekehrte Wandergesellen seien bei Unternehmen außerordentlich gern gesehene Mitarbeiter – allein schon vom Menschlichen her: „Sie sind aufgeschlossener“ als Kolleginnen und Kollegen, die nicht auf der Walz waren, ist der Obermeister überzeugt.
„Man besinnt sich wieder auf Werte“
Ähnlich sieht das Zimmermeister Frank Schmachtenberger aus Randersacker bei Würzburg. Er ist Berufsschullehrer an der städtischen Josef-Greising-Schule in Würzburg, die sich auf Bauberufe spezialisiert hat. Auch Schmachtenberger hat beobachtet, dass ein bis zwei Handwerker eines Jahrgangs nach der Ausbildung auf die Walz gehen – „weil man sich doch wieder auf Werte besinnt“.
Beispiel: Zimmerer Niko Kettner aus Neubrunn
Wer einmal Wandergeselle war, der trägt das ein Leben lang in sich. Niko Kettner ist ein Beispiel dafür, was dieser Spruch meint. Der Zimmermann aus Neubrunn (Lkr. Würzburg) kam Mitte 2005 nach gut drei Jahren auf der Walz nach Hause – und ist bis heute irgendwie ein Wandergeselle geblieben. Und das, obwohl er nun ein Berufsleben führt, das man als situiert bezeichnen kann. Der 36-Jährige ist drauf und dran, Chef des Holzbau-Unternehmens zu werden, für das er seit zwei Jahren arbeitet. Kettner ist längst wieder verwurzelt in seiner Heimat – und doch nicht. Denn es ist förmlich zu spüren, dass Kettner jederzeit wieder auf Wanderschaft gehen würde, wenn die Rahmenbedingungen es zuließen.
„Man gehört eben ein Leben lang dazu“, beschreibt der Handwerker das Seelenleben eines Ex-Wandergesellen. Kettner betreut eine Herberge für Wandergesellen
Weil er dazu gehört, kümmert er sich heute noch in besonderer Weise um Wandergesellen: Kettner betreut in Neubrunn seit 2013 „die Herberge“, die zusammen mit dem Gasthaus Ochsen Anlaufstelle und für wandernde Gesellen Dach überm Kopf ist. Etwa 80 Kollegen empfängt Kettner dort pro Jahr – Tendenz steigend. Solche Herbergen gibt es im ganzen Land.
Kettner ist darüber hinaus im Raum Würzburg für die „Vereinigung der rechtschaffenen fremden Zimmer- und Schieferdeckergesellen Deutschlands“ Ansprechpartner bei allen Fragen rund um die Walz. Im Gasthaus Ochsen in Neubrunn hat er im ersten Stock einen Versammlungsraum allein für Treffen von Wandergesellen eingerichtet.
Walz hat tiefe Spuren bei Kettner hinterlassen
Dass die drei Jahre auf der Walz tiefe Spuren bei Kettner hinterlassen haben, macht er auch an seinem Charakter aus: „Man wird offener“, die Gelassenheit aus den Wanderjahren „ist bei mir immer noch drin“ und „materielle Dinge sind für mich unwichtiger geworden“. Zudem sei ihm klar geworden: „Diejenigen, die auf Wanderschaft sind, lieben ihren Beruf und wollen was aus ihm machen.“
Das hat Kettner getan. Kaum war er 2005 wieder daheim, ging er die Meisterprüfung an. Es folgten Jahre in verschiedenen Schreinereien und Zimmereien der Region, bis er schließlich in jenem Wertheimer Betrieb landete, in dem er noch heute arbeitet. Weil dessen Chef bald in Rente gehe, stehe die Nachfolgefrage an. Er könne sich durchaus vorstellen, diese Aufgabe zu übernehmen, lässt Kettner durchblicken.
Kettner wird wohl bald Chef eines Betriebs
Als Chef wird er dann nicht nur mit dem Hammer umgehen müssen, sondern auch mit Mitarbeitern. Etwas, was er auf der Walz direkt nicht gelernt hat. Aber indirekt: Wer jeden Tag auf Fremde zugehen müsse, um Herberge, Essen oder Arbeit zu bekommen, der „kriegt auch sehr viel Fingerspitzengefühl“ im Umgang mit Menschen. Und es mache toleranter. Kurzum: „Die Walz hat mein Leben von Grund auf verändert.“ Schon deshalb, weil er ohne die Zeit in Neuseeland, Finnland, Frankreich, Österreich und anderen Ländern „heute immer noch bei meiner Lehrfirma hocken würde“.
Die Wanderjahre bringen nach Kettners Ansicht nicht nur dem eigenen Charakter etwas, sondern auch den handwerklichen Fertigkeiten. Er habe auf Baustellen im Ausland allerlei Erfahrungen mitgebracht, „wie man auch arbeiten kann – oder eben nicht“. Diese vielfältigen Erfahrungen führen seiner Meinung nach dazu, dass Wandergesellen bei Betrieben und Innungen ein anderes Image haben als herkömmliche Handwerker: „Wir sind interessanter.“
Beispiel: Ofenbauer Max Herde aus Bad Neustadt
Südafrika, Sri Lanka, USA, Rumänien, Allgäu – das waren Stationen des gelernten Ofenbauers Max Herde aus Bad Neustadt. Eine Erkenntnis während dieser Wanderjahre war für ihn: „Mit der Zeit lernt man, was man daheim hat.“ Das brachte den heute 30-Jährigen dazu, dass er nach seiner Rückkehr von der Walz im Oktober 2013 erst ein halbes Jahr bei einem Freund arbeitete, sich dann aber gleich mit seiner Firma MH Ofenbau selbstständig machte. Als Wandergeselle hatte Herde einen besonderen Status: Er hatte einen Meisterbrief in der Tasche, den er 2010 bekommen hatte. Die meisten Handwerker auf der Walz sind (noch) keine Meister, sondern Gesellen.
Dass er den Schritt in die Selbstständigkeit wagen würde, war Herde während der drei Wanderjahre erst nicht klar. Denn es hätte auch anders laufen können: „Viele Betriebe wollten mich gar nicht mehr weglassen.“ Seine Popularität sei auch der Tatsache geschuldet gewesen, dass er einen seltenen Beruf hat. Das steigerte die Nachfrage nach ihm.
Während der Walz musste Herde auch mal Fliesen verlegen
Dass er während der Walz auch mal artfremd anpacken und Fliesen verlegen musste oder im Lüftungsbau eingesetzt wurde, sieht Herde heute als Erweiterung seines handwerklichen Spektrums an. Dazu habe auch beigetragen, dass er zum Beispiel im Allgäu den Bau von sogenannten Grundöfen gelernt habe. Diese spezielle Art eines Speicherofens habe er mittlerweile in das Repertoire seiner Firma übernommen. Neben der handwerklichen Fingerfertigkeit habe die Walz auch seinen Charakter verändert, urteilt Herde. Seine Menschenkenntnis sei breiter, seine Gelassenheit größer geworden. Und er sei vernünftiger geworden – das behaupte zumindest seine Freundin, sagt Herde über Herde.
Die Öfen von Herde sind Unikate
Die Kachelöfen des 30-Jährigen sind Unikate, Serienproduktion kenne er nicht. „Die Geschäfte laufen gut“, sagt der Jungunternehmer. Sein Radius erstreckt sich in erster Linie von Bad Neustadt bis in den Raum Hammelburg und Schweinfurt. Die 20 000 Euro Startinvestition für den Sprung in die Selbstständigkeit stemmte der Ofenbauer aus eigener Tasche und mit Hilfe von Freunden. Die ersten Hürden seien im Vergleich zu anderen Handwerksbetrieben nicht so hoch gewesen, weil man als Ofenbauer keine Betriebsstätte einrichten müsse, sagt Herde. Was er an Werkzeug und Material braucht, bringt er in einem Lieferwagen unter.
Dass Herde längst auch im übertragenen Sinne wieder in seiner Heimat angekommen ist, täuscht nicht über die Folgen der Wanderjahre hinweg: „Es ist immer noch ein Stück Walz in mir“. Die Jahre auf der Straße lassen ihn nicht los: „Manchmal juckt es noch.“