Vier Kirchenglocken hängen in den Glockentürmen der evangelisch-lutherischen Dekanatskirche St. Stephan am Wilhelm-Schwinn-Platz, deren gemeinsamer Klang jeden Sonntag und auch feiertags die Gottesdienstbesucher erfreut. "Unsere Glocken hört man bis ins Frauenland hinauf", sagt Pfarrer Jürgen Dolling stolz und erklärt, dass in jedem der zwei Stephans-Türme zwei der Glocken schwingen. "Sie bestehen aus Bronze und sind an Stahljochen in einem Stahlglockenstuhl aufgehängt", erklärt der Pfarrer.
Eine der Glocken, die mit dem Ton Cis', ist weit über die Grenzen Würzburgs hinaus bekannt und erzählt eine besondere Geschichte. Unter der Überschrift "Süßer die Glocken nie klingen" ist sie Bestandteil eines Artikels, der in der aktuellen Dezember-Ausgabe des Neuen Glogauer Anzeigers - erschienen ist, einem monatlich erscheinenden Blatt des schlesischen Heimatvereins Glogauer Heimatbund e.V..
Auf der Spur nach den schlesischen Kirchenglocken
In dem Text geht der Autor Thomas Kinzel auf die Spur verschiedener Kirchenglocken aus der schlesischen Heimat, "die dem Schicksal des Einschmelzens entronnen sind und den Krieg auf dem Hamburger Glockenfriedhof überstanden haben".
"Dazu gehört auch unsere Cis'-Glocke", wie Pfarrer Dolling weiß. So steht auch auf der Homepage von St. Stephan beschrieben, dass diese Glocke mit einem Durchmesser von 1,42 Metern und einem Gewicht von 1727 Kilogramm im Jahr 1924 von A. Geittner und Söhne in Breslau gegossen wurde. Laut Dolling stammt sie aus der Friedenskirche der Gemeinde „Zum Schifflein Christi“ in Glogau an der Oder. Während des Zweiten Weltkrieges sei sie mit mehr als 47 000 anderen Glocken aus allen Gebieten des Deutschen Reichs auf dem Glockenfriedhof in Hamburg gelagert worden.
Unter den in Hamburg geretteten Glocken - so steht es im Jahrbuch für schlesische Geschichte aus dem Jahr 1981 (Anmerk. d. Red.: Verfasser Werner Eberlein) geschrieben, fanden sich eine erhebliche Anzahl von Glocken aus den Kirchengebieten ostwärts von Oder und Neiße in den alten ostdeutschen Reichsgebieten. In ihre alte Heimat konnten sie nicht zurückkehren, denn die Eigentümergemeinden - so auch in Glogau - waren vertrieben, viele ihrer Gotteshäuser zerstört. So wanderten diese Glocken in den Westen Deutschlands aus, wohin viele Vertriebene gekommen waren und in neu entstandenen evangelischen Gemeinden wieder in Benutzung genommen worden seien, heißt es im Jahrbuch weiter.
Als Patenglocke kam sie nach Würzburg
Auf der Homepage von St. Stephan erfährt man, dass "circa 1200 Glocken, die nach Kriegsende nicht mehr zurückgegeben werden konnten", als sogenannte Patenglocken an christliche Gemeinden übergeben wurden. So kam die schlesische Glocke mit dem Cis'-Ton 1951 nach Würzburg in die Stephanskirche, nach Dokumenten und Fotos zu urteilen, fand die Glockenweihe 1952 statt.
Pfarrer Dolling zeigt bei der Besichtigung der Glocke im Turm auf die Inschrift: „Heilig, Heilig, Heilig. Zu seinem Heiligtum mit reichen Gnadengaben lässt dich der ew‘ge Gott durch seine Stimme laden. Vernimm‘s o Mensch, neig ihm dein Herz und streb auf Erden himmelwärts!“, heißt es da. "Es ist die Einladung an die Gläubigen am Gottesdienst teilzunehmen", erklärt der Pfarrer.
Er verweist auf den Monatsgruß des evangelischen Dekanats vom April 1952, wo zu lesen ist: "Ein besonderer Freudentag war die Annahme der Glocken (unserer alten Stephansglocke und der zwei Leihglocken) und die Weihe unserer neuen, herrlichen, großen Glocke. Man konnte bei dem Regen am 5. März eigentlich von einer 'Taufe' sprechen. Aber wir durften die Liebe einer großen Gemeinde zu ihrer Kirche spüren, weil alle unbeirrt dablieben. Ergreifend war es auch, daß eine große Schar am 16. März abends auf den Stephansplatz eilte, um das erste Geläute zu hören - im Gedenken an die Opfer vor sieben Jahren!"
Weitere Glocke mit schlesischen Wurzeln
Doch nicht nur die Cis-Glocke in St. Stephan stamme aus Schlesien, wie Pfarrer Dolling verrät. Auch die Vaterunserglocke mit dem Ton e‘, die sich mit der Cis`-Glocke im Südturm Richtung Regierungsgebäude befindet, hat schlesische Wurzeln, wie das Jahrbuch für schlesische Geschichte belegt. Die 862 Kilogramm schwere Glocke hat einen Durchmesser von 1,80 Metern und wurde 1835 von Christian Ludwig Pühler (Gnadenberger Glockengießerei) gegossen. Sie stammt aus der evangelischen Kirche in Bunzlau/Niederschlesien.
Ebenso wie ihre Schwester-Glocke wurde sie im Jahr 1951 als Patenglocke vom Hamburger Glockenfriedhof übernommen, weiß Dolling. Sie trägt die Inschrift: „Liebe soll Euch stets regieren. Die Freude wie der Kummer spricht meine Stimme aus. Sie tönt den letzten Schlummer, sie ruft ins Gottes Haus – Tristitiam leniens funera vestra sequor."
Dolling jedenfalls ist froh über sein harmonisches Quartett: "Im Zusammenspiel mit den weiteren zwei Glocken mit den Tönen h und gis', die im Nordturm Richtung Wilhelm-Schwinn-Platz schwingen, ergibt es ein faszinierendes Glockengeläut."