Umständlich rangiert der Fahrer des Wohnmobils mit Kieler Nummernschild in der Einfahrt. „Alles voll“, ruft seine Frau und winkt ihn um die Kurve. Sie ist kurz ausgestiegen, um zu fragen, ob nicht doch noch ein Plätzchen frei sei für die Nacht auf dem Würzburger Campingplatz Kalte Quelle. „Jetzt fahren wir nach . . .“, der Norddeutsche schaut suchend zum Campingführer auf dem Armaturenbrett, dann durchs offene Autofenster zu seiner Frau. „. . . Frickenhausen“, vervollständigt sie seinen Satz. Bei der Kalten Quelle kommen die beiden heute nicht mehr unter, 20 Kilometer mainaufwärts wollen sie nun ihr Glück versuchen.
„Das sind nicht die ersten, die ich heute wegschicken muss. Und ganz sicher nicht die letzten“, sagt Kalte-Quelle-Inhaber Stefan Schmitt. „Und es ist erst 11 Uhr.“ Vor ein paar Jahren sei es noch undenkbar gewesen, dass der Platz schon vor der Mittagszeit voll belegt ist. „Heute ist das normal.“ Von der Schranke an der Einfahrt baumelt ein Schild: „Ausgebucht". Manche halten trotzdem und fragen nach einem kleinen Stück Rasen, um ihr Domizil aufzuschlagen.
An der Kalten Quelle kann man sehen, wie das Campen boomt, so wie es Tourismus- und Industrieverbände bejubeln und beschreiben. „Ich bräuchte noch mal so viel Platz", sagt Schmitt, "und müsste wahrscheinlich immer noch Leute wegschicken.“ Mittlerweile hat er seine eigene Notstandsregel: Familien mit kleinen Kindern oder Babys versucht er immer irgendwie doch noch unterzubringen. Alle anderen müssen meist weiterziehen.
Schmitt hat mal nachgerechnet: Um 45 Prozent haben die Übernachtungen in den vergangenen drei Jahren auf seinem Platz zugenommen. Immer früher am Tag hängt er sein Schild an die Schranke, 30 bis 40 Anfragen für Dauercampingplätze muss er jedes Jahr ausschlagen, Tendenz steigend. Und auch bundesweit sprechen die Zahlen für einen Boom: „Knapp 47 000 neuzugelassene Reisemobile und über 24000 neuzugelassene Caravans bedeuten einen neuen Allzeit-Bestwert“, schreibt der deutsche Caravaning Industrie Verband (CIVD) über das Camping-Jahr 2018. Das sind 12 Prozent mehr als im Jahr davor.
2018 war das achte Rekordjahr in Folge für den deutschen Reisemobilmarkt, in den vergangenen zehn Jahren haben sich die jährlichen Neuzulassungen mehr als verdoppelt. Für 2019 gibt es bislang nur Prognosen – doch die sind bombastisch. „Der beste April aller Zeiten“, schreibt der CIVD und meldet 39,8 Prozent Wachstum im Vergleich zum April 2018. Was die Übernachtungszahlen auf Campingplätzen in Deutschland anbelangt, ist Bayern Spitzenreiter - mit 16,9 Prozent.
Aber was macht ihn aus, den Reiz des Campens? Ist es die Einfachheit, das Improvisatorische? „Drei Handgriffe“, Anja Hornung zeigt auf die gepolsterte Sitzecke, „drei Handgriffe und wir haben ein Bett für die Mädels.“ Die Mädels, das sind die beiden Töchter von Anja und Frank Hornung, 14 und 16 Jahre alt. Die Hornungs sind heuer das zweite Jahr Dauercamper in Volkach auf dem Campingplatz Ankergrund. Und nur drei Handgriffe braucht es, um für die Familie jede freie Minute zu Ferien zu machen. Dann schlafen sie zu viert hier in ihrem Wohnwagen, vor der Tür plätschert der Main, die Grillen zirpen, ihr kleines Boot liegt im Wasser bereit. Die Nachbarn, die längst Freunde sind, schlummern weniger als einen Steinwurf entfernt.
Im August 2017 hatten sie hier, am Ankergrund, den Geburtstag ihrer älteren Tochter bei Freunden mit Dauerstellplatz gefeiert. „Hier waren alle so nett, es hat so eine tolle Atmosphäre geherrscht. Der Tag war einfach so wunderschön“, schwärmt Frank Hornung noch heute. Als die Sonne untergegangen war, stand für die Hornungs fest: Das wollen wir auch. Noch am gleichen Abend meldeten sie sich bei Tanja Herlitz, der Inhaberin des Campingplatzes, für einen Dauerstellplatz an. Am nächsten Tag kauften sie spontan einen gebrauchten Wohnwagen – obwohl beide noch nie vorher auch nur einen Tag im Campingurlaub waren.
Ein paar Wochen später schlugen die Hornungs probeweise die Zelte in Volkach für zwei Wochen auf, bevor der Platz in die Winterpause ging. Und stellten erleichtert fest: Der spontane Impuls war der richtige. „Es hat sich bis heute nichts geändert, wir sind einfach rundum zufrieden damit, Dauercamper zu sein.“ Woanders Urlaub? Seitdem nicht mehr. „Unser Urlaubsbedürfnis wird hier komplett gestillt“, sagt Anja Hornung. Und ihr Mann fügt hinzu: „Man muss sich das mit zwei großen Kindern auch einfach mal durchrechnen, da kostet ein Urlaub schnell ein paar Tausend Euro, da ist die einmalige Investition in einen Wohnwagen sinnvoller.“
Den Winter über wohnen die Hornungs in Großenlüder-Bimbach im Landkreis Fulda. Wenn die Campingsaison im April beginnt, verbringen sie so viel Zeit wie es Arbeit und Angehörige zu Hause zulassen in Volkach. „Wenn wir in unserem Haus die Taschen packen und hierher aufbrechen, ist es, als würden wir nach Hause fahren“, sagt die Familie.
Es ist die besondere Gemeinschaft, die auf dem Platz herrscht, die sie gleich verzauberte und die sie noch heute so am Dauercampen begeistert. „Jeder hilft hier jedem, jeder ist offen den Anderen gegenüber. Man rückt eng zusammen und ist gleichzeitig unglaublich frei.“ Was manch einem eventuell zu viel der Nähe wäre – beim Toilettengang, beim Abspülen nach dem Essen, bei fast allem begegnet man seinen seinen Campingnachbarn – ist für die Hornungs kein Problem. Wo auf dem Dorf der Nachbar verstohlen über die Hecke auf die Geranien linst, stapft er hier mit großem Hallo über Schnur und Hering des Vorzelts und wird freudig empfangen.
„Man merkt hier schon, wenn jemand seine Ruhe will“, sagt Campingplatz-Chefin Tanja Herlitz. „Es gibt eine eiserne Regel: Ist die Tür vom Wohnwagen zu, dann bleibt sie auch zu. Ist sie offen, ist jeder willkommen.“ Der Campingplatz "Ankergrund" ist auch in der laufenden Saison wieder gut gebucht. „Vor allem die deutschen Urlauber, die ein, zwei Wochen bleiben, haben stark zugenommen“, sagt Herlitz. Gründe gibt es viele, die freien Tage nicht in der Karibik, sondern in der Nähe der Heimat zu verbringen. Gerade junge Familien zieht esimmer häufiger auf den Campingplatz. „Die einen sagen, dass ihnen die typischen Urlaubsländer zu gefährlich geworden sind. Die anderen freuen sich, dass sie hier einfach mal die Kinder laufen lassen können, ohne ständig hinterher sein zu müssen. Und wieder andere genießen es, ohne Stress ihren Hund mit in den Urlaub nehmen zu können.“
Das Publikum auf dem Campingplatz wird jünger, gemischter, urbaner, das stellt auch Stefan Schmitt fest. „Wir haben einfach alle möglichen Leute hier: Japaner, Finnen, Holländer, Deutsche, Chinese, Rentner, Studenten, alle Schichten, alle Altersklassen." Und im Oktober, zum Semesterstart, "haben wir sogar immer mehr Studenten, die erst mal kein Zimmer in Würzburg bekommen haben und im Wohnmobil der Eltern so lange hier wohnen“.
Und auch die Ansprüche der Camper werden immer individueller. „WLAN ist da das Mindeste", sagt der Campingplatz-Chef. "Manche brauchen eine 5000 Watt Elektroleitung, der nächste fährt hier mit Fußbodenheizung vor. Mit Campen hat das aber nichts mehr zu tun.“ Für jeden Geldbeutel sei mittlerweile ein Campingbus oder Anhänger zu haben, so Schmitt.
Und wer nicht kauft – oder zumindest noch nicht – leiht sich den Caravan einfach aus: 2013 gründete der Berliner Dirk Fehse die Internetplattform PaulCamper, nachdem er selbst ein paar Jahre lang sein eigenes Campingbüsschen namens Paul an Freunde und Bekannte vermietet hatte. Über die Plattform können Campingmobil-Besitzer ihre Fahrzeuge privat vermieten, um die Abwicklung sowie Versicherungsfragen kümmert sich PaulCamper. Im ersten Jahr standen 43 Fahrzeuge zur Vermietung, heute sind es 5000, die Plattform ist Marktführer und Galionsfigur der Sharing-Economy. Während 2015 insgesamt 3672 Nächte vermittelt wurden, waren es allein in diesem Jahr schon 120 000, so Pressesprecherin Cristin Liekfeldt.
Die Daten, die PaulCamper von seinen Nutzern erfasst hat, sprechen dafür, dass der Boom anhalten wird: Fast die Hälfte der Vermieter ist unter 43 Jahren, über 60 Prozent der Mieter sind unter 50. Mehr als die Hälfte der Mieter sind Erst-Camper – und sie kommen wieder. Es wächst eine Generation von Campern nach, die langsam, aber sicher die heimischen Gefilde für sich erobert. 60 Prozent der Mieter bleiben mit ihrem Camper in Deutschland. „Wir entdecken zunehmend, dass wir eher schon in Bangkok waren, als jemals im Elbsandsteingebirge gewesen zu sein“, erklärt Liekfeldt den Trend. Außerdem müsse man die Entwicklung eng verknüpft mit anderen, neuen Bedürfnissen wie dem, möglichst nachhaltig und selbstbestimmt zu leben.
Ein einziger Grund lässt sich also schwer ausmachen, der das rasante Wachstum der Campingbranche erklärt. Freiheitsdrang, Sicherheitsbedürfnis, Gemeinschaftsgefühl, Naturverbundenheit, Spontanität - die Gründe, sich fürs Campen zu entscheiden, sind so individuell wie die Camper selbst. Aber das ist eigentlich auch egal, so lang sich das Urlaubsgefühl zuverlässig einstellt, wenn der erste Hering in den Boden geschlagen wird. „Was genau es war, was uns dazu gebracht hat, kann ich nicht benennen“, sagt auch Anja Hornung. „Aber: Uns zu entscheiden, Camper zu werden, war das Verrückteste, Spontanste aber vor allem Beste, was wir je gemacht haben.“