
Schon immer war der Bub, geboren 1947, fasziniert von diesem riesigen, teilweise zerstörten Palast mitten in seiner Heimatstadt Würzburg. Kam er auf den Spaziergängen mit den Eltern an der Rückseite vorbei, riss er sich los, um die bunten Bilder im Gartensaal zu bestaunen. Später kehrte er auf seinem Dreirad aus dem Frauenland auf eigene Faust zurück. Und noch später, als Teenager, stieg er mit einem Freund in den Südflügel der Residenz ein. Dort fanden die beiden einen bunten Scherbenhaufen, den sie mitnahmen und zu Hause mit Uhu wieder zusammensetzten. Es war eine Vase.
Heute ist diese Vase, inzwischen fachmännisch restauriert, in der Residenz zu besichtigen. Der Bub, der damals die Vase auf Geheiß des Vaters schleunigst zurückgeben musste, war Stefan Kummer. Die Würzburger Residenz sollte ihn sein ganzes Leben beschäftigen.
Nun hat Kummer, heute 76, sein Riesenwerk "Die Entstehung der Würzburger Residenz" vorgestellt. Ein Lebenswerk im wahrsten Sinne des Wortes also. Der Professor war von 1987 bis zu seiner Emeritierung 2013 Inhaber des Lehrstuhls für Mittlere und Neuere Kunstgeschichte an der Universität Würzburg.

Die Geschichte mit dem Dreirad und der Vase erzählte Kummers Frau Christiane einem faszinierten Publikum aus Freunden, Förderern, Wegbegleitern, Kollegen und Familie bei der Buchvorstellung im überfüllten Toscanasaal der Residenz. "Als die Kinder auszogen, zog Balthasar bei uns ein", so Christiane Kummer, die einige Sprüche ihres Mannes vom Frühstückstisch preisgab. Etwa diesen: "Ich glaube, Balthasar Neumann würde sagen, endlich versteht mich mal jemand."
Die erste intensive Auseinandersetzung mit der Residenz seit 100 Jahren
"Die Entstehung der Würzburger Residenz" besteht aus zwei Textbänden und einem Bildband mit zusammen weit über 1000 Seiten (Königshausen & Neumann, 98 Euro) und ist, so Oberbürgermeister Christian Schuchardt, die erste intensive Auseinandersetzung mit der Residenz seit 100 Jahren. Schuchardt würdigte Kummer nicht nur als kundigen und akribischen Wissenschaftler, sondern, in dessen Eigenschaft als Vorsitzender des Verschönerungsvereins, auch als "sehr kritischen" Begleiter städtischer Bauvorhaben, etwa der Aufstockung des Ämterhochhauses.
"Vielleicht gab es deshalb noch keine Ehrung", so der Oberbürgermeister, bevor er ebendieses Versäumnis korrigierte und Kummer überraschend mit dem Tanzenden Schäfer auszeichnete. Die Porzellanfigur wird seit 1980 verdienten Bürgerinnen und Bürgern der Stadt und berühmten Gästen verliehen.

Wie sehr die zwischen 1720 und 1744 im Rohbau errichtete Residenz Stefan Kummer beschäftigte und beschäftigt, wurde auch in einer Anekdote deutlich, die Professor Damian Dombrowski erzählte: 2010 habe Kummer ihm berichtet, er habe endlich das Wölbsystem der Hofkirche durchschaut. "Seine Freude dabei würde man eher bei Physikern vermuten, die einen entscheidenden Beitrag zur Quantenphysik geleistet haben", so Dombrowski, der als Direktor der Neueren Abteilung des Martin von Wagner Museums Nachfolger Kummers ist.
Eine Fülle bislang unerschlossener Archivalien ans Licht befördert
Über Jahrzehnte hat Kummer eine Fülle bislang unerschlossener Archivalien ans Licht befördert und erstmals ausgewertet. Darunter 80 architektonische Entwürfe, die Korrespondenz zwischen Balthasar Neumann und den Bauherren, Hofkammerprotokolle oder Baurechnungen, so die Literaturwissenschaftlerin Dorothea Klein, die das Buch lektorierte, das von den Freunden der Würzburger Residenz, den Freunden Mainfränkischer Kunst und Geschichte, dem Verschönerungsverein, der Sparkassenstiftung und Inge Knauf finanziell unterstützt wurde.

Kummer stelle die Entstehung der Residenz als historischen Prozess dar, so Klein, von den ersten Überlegungen über die Kauf- und Tauschgeschäfte, die nötig waren, um den Baugrund zu erwerben, bis hin zur Frage, warum die Residenz schließlich so groß wurde. Und der Autor korrigiere eine These von Richard Sedlmaier und Rudolf Pfister in ihrem vor 101 Jahren erschienenen Buch "Die fürstbischöfliche Residenz zu Würzburg". Die beiden hätten alles daran gesetzt, Neumann als deren Schöpfer zu "entthronen", so Klein. Dank Kummers Erkenntnissen sitze dieser nun "wieder fest im Sattel".
Erster Bauherr war Fürstbischof Johann Philipp Franz von Schönborn, der aber bereits 1724 starb. Wäre es nach seinem Nachfolger Christoph Franz von Hutten gegangen, wäre es beim Nordflügel geblieben. Erst dessen Nachfolger wiederum, Friedrich Karl von Schönborn, trieb den Bau ab 1729 wieder voran, sodass er in der heute bekannten Form mit seinen zwei Flügeln und dem Mittelbau mit Treppenhaus und Tiepolo-Fresco vollendet werden konnte.

Prof. Georg Satzinger, langjähriger Freund und Kollege Stefan Kummers, ging in seinem Festvortrag auf die frühen Jahre Balthasar Neumanns ein. Er porträtierte den hochbegabten Glocken- und Geschützgießer, der sich permanent auch in Fragen der militärischen und zivilen Baukunst weiterbildete und etwa in Mailand entscheidende Anregungen für sein späteres Meisterwerk erhielt. Als er anfing, dieses zu planen, war er 32 und längst "nicht mehr das unbeschriebene Blatt, wie viele Forscher glauben wollen", so Satzinger.
Stefan Kummer schließlich meldete sich mit herzlichen Dankesworten an Freunde, Helfer, Unterstützer und nicht zuletzt Familie zu Wort: "Danke auch an unsere Kinder, dass sie jahrelang nicht gemeckert haben, wenn der Alte mal wieder am Schreibtisch saß."