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Röttingen
Röttingen vor 50 Jahren: Der Tag, an dem die Burg einstürzte
Vier Frauen fanden bei der größten Katastrophe in der jüngeren Geschichte der Stadt Röttingen den Tod. Was war die Ursache für das Unglück?
Vier Näherinnen starben vor genau 50 Jahren am 5. November1971 beim Einsturz der Burg Brattenstein in Röttingen. Das Bild stammt aus dem  Archiv der Stadt Röttingen.
Foto: Repro Markhard Brunecker | Vier Näherinnen starben vor genau 50 Jahren am 5. November1971 beim Einsturz der Burg Brattenstein in Röttingen. Das Bild stammt aus dem  Archiv der Stadt Röttingen.
Markhard Brunecker
 |  aktualisiert: 15.02.2024 12:49 Uhr

Um 13.06 Uhr ertönte die Sirene am Röttinger Rathaus, wenige Minuten zuvor war der Notruf beim damaligen Bürgermeister Otmar Menth eingegangen. "Hilfe, Hilfe, die Burg ist eingefallen", schrie der Anrufer ins Telefon. Es war der 5. November 1971 als bei einem Teileinsturz der Burg Brattenstein vier Näherinnen getötet und elf weitere Menschen schwer verletzt wurden. An diesem Freitag jährt sich der größte Katastrophe in der jüngeren Röttinger Stadtgeschichte zum 50. Mal. Eigentlich hätten die 42 Mitarbeiterinnen und vier Mitarbeiter eine Kleiderfabrik mit Sitz in Miltenberg an diesem Freitag längst Feierabend gehabt, doch sie wollten vorarbeiten für das bevorstehende Weihnachtsfest. 

Was aber war der Auslöser für dieses tragische Unglück? Zwischen der Burg Brattenstein und dem talwärts liegenden städtischen Kindergarten sollte an diesem Tag eine Kettenradraupe einen ehemaligen und inzwischen verfüllten Hundezwinger im Ostflügel der Burg entfernen, um Platz für eine Garage für Rotkreuz-Fahrzeuge zu schaffen. Im Obergeschoss darüber standen die schweren Bügelpressen und Nähmaschinen der Kleiderfabrik. 

Die Burg Brattenstein vor dem Einsturz. Die Aufnahme stammt aus dem  Archiv Hartmut Eichinger.
Foto: Repro Markhard Brunecker | Die Burg Brattenstein vor dem Einsturz. Die Aufnahme stammt aus dem  Archiv Hartmut Eichinger.

Einige Kubikmeter Erde und Steine waren schon abgetragen, da hielt die Decke dem Gewicht dem Gewicht und den Erschütterungen der Maschinen nicht mehr stand und riss neben der südlichen Außenwand einen zwölf Meter langen Abschnitt des Burgflügels mit in die Tiefe. Auch die Turnräume der naheliegenden Schule und die Schießanlage der Schützengesellschaft Fortuna wurden dabei verschüttet. 

Als die ersten Rettungskräfte an der Burg eintrafen, bot sich ihnen ein Bild des Grauens. Über den einklemmten Verletzten und Verschütteten lag die schwere Decke und das Gebälk, die erst erst angehoben werden mussten. Auf der Suche nach geeignetem Kranwagen wurde man bei US-Streitkräften auf dem Flugplatz in Giebelstadt fündig. Mit dem Kran und weiteren Seilwinden arbeiteten sich über 100 Helfer und US-Soldaten teils nur millimeterweise zu den Opfern vor und brachten sich dabei selbst in Lebensgefahr.

In Hohlraum gesteckt

Die letzte und und zugleich jüngste Todesopfer, eine 26-jährige Näherin, konnte erst am Samstagabend, 30 Stunden nach dem Unglück, aus dem Trümmerfeld geborgen werden. Zu den Überlebenden gehört auch die heute 69-jährige Marianne Franz, geborene Singer. In einem Hohlraum zwischen ihrer und einer weiteren Nähmaschine blieb die damals 19-Jährige mit dem Kopf nach unten stecken. "Das war meine Rettung", sagt sie heute. Bei der Einlieferung in die Würzburger Uniklinik  stellte man fest, dass der Unterarm gelähmt war, doch mit Hilfe von Elektroschocks konnte die Lähmung im Verlauf von Monaten wieder geheilt werden. Noch heute kommen ihr immer wieder Erinnerungen auf, die sie zum Weinen bringen. 

Medien berichteten weltweit ausführlich über das Unglück. Schnell stellte sich die Schuldfrage, die über Jahre hinweg auch die Gerichte beschäftigte. Angeklagt vor dem Landgericht Würzburg waren 1973 der ehrenamtliche Bürgermeister Otmar Menth und der Kreisbaumeister wegen fahrlässiger Tötung. Beide wurden zu Geldstrafen verurteilt, der Bundesgerichtshof hob die Urteile jedoch wieder auf. Am Ende wurde das Verfahren vor der Großen Strafkammer des Landgerichts Würzburg gegen Geldauflagen von 4500 beziehungsweise 2700 Mark eingestellt. 

Die Begründung der Richter: Es handelte sich um eine geringe Schuld. Der Bürgermeister habe vor Baubeginn unterlassen, den Kreisbaumeister über aufgetretene Mängel zu berichten, und dieser sah daher keine Veranlassung, einen Sachverständigen zur Überprüfung der Statik heranzuziehen. Der Bürgermeister habe für den Neubau der Garage Geld sparen wollen. Erst nach über zehn Jahren stellte sich die Frage: Wie geht es weiter mit der Burg?

"Reißt sie ab!"

Die vermutlich im 12. und 13. Jahrhundert erbaute Burganlage wurde 1230 im Eigentum der Herren von Hohenlohe erstmals urkundlich erwähnt. Nach dem Zweiten Weltkrieg war sie zunächst Durchgangslager für Flüchtlinge, später produzierte die Miltenberger Kleiderfabrik Weber in der Burg Herren-Oberbekleidung.

Viele Röttinger gaben ihre Meinung klar zum Ausdruck: "Reißt sie ab!" Doch davon wollte der Nachfolger von Otmar Menth, Bürgermeister Günter Rudolf, nichts wissen. Auf eine Offerte des damaligen Prinzipals des Torturmtheaters Sommerhausen, Veit Relin, bot ihm das Röttinger Stadtoberhaupt das Burgareal als mögliche Spielstätte für sein Freilichttheater an. Nach intensiven Verhandlungen fand 1984 die Premiere der "Festspiele an der romantischen Straße" im Hof der Burg Brattenstein statt. Nach der großartigen Resonanz wurde die Spielstätte immer weiter ausgebaut.

Jahrelang klaffte die nur mit einer behelfsmäßigen Holzkonstruktion geschlossene Lücke wie eine offene Wunde in der Burgmauer. 2017/2018 wurde sie nach einem Entwurf des Schweinfurter Büros Schlicht Lamprecht Architekten durch einen modernen Bau geschlossen, der sich gestalterisch an die historische anlehnt. Bereits zu Beginn der Festspielsaison im Juni 2018 wurde der mit 2,4 Millionen Euro Gesamtkosten neu erbaute Ostflügel eingeweiht. Die Sanierung stellt den ursprünglich geschlossenen Charakter der Burganlage wieder her, zugleich bleibt mit den unverändert belassenen Abbruchkanten auch die Erinnerung an den Einsturz präsent.

Die Burg Brattenstein heute mit dem neuen Ostflügel und dem Stadtbalkon aus Corten-Stahl.
Foto: Markhard Brunecker | Die Burg Brattenstein heute mit dem neuen Ostflügel und dem Stadtbalkon aus Corten-Stahl.

Statt den fehlenden Ostflügel lediglich zu ergänzen, schufen die Architekten eine völlig neue städtebauliche Situation: Sie setzten die wiederaufgebaute Stützwand vom Straßenbereich/Kindergarten zurück und nutzten den so entstandenen Zwischenraum für eine breite Freitreppe, die nun eine zusätzliche Erschließung der Burg mit neuem Stadtbalkon ermöglicht. Aus den staatlichen Fördertöpfen wurden rund 1,2 Millionen Euro übernommen. Für den ihr gelungenes Konzept in der Ergänzung von historischer Bausubstanz und moderner Architektur wurde die Architekten mit dem renommierten BDA-Preis Bayern ausgezeichnet.

"Es wird Zeit, dass wir einen Erinnerungsort bekommen", war die Meinung der 15 Überlebenden des Unglücks am 6. Juni 2018, als nach 47 Jahren der längst überfällige Gedenkstein enthüllt wurde. Mit einem Ökumenischen Gedenkgottesdienst am Samstag, 6. November, will man um 15 Uhr im Burghof der Opfer des bisher größten Unglücks in Röttingen gedenken.

 
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