Sie schwingt. Schnell und immer schneller dreht sich die rote Scheibe. Mit kräftigen Armzügen hält Harald Lange das Spielzeug in Bewegung. Die Schnur zwirbelt sich im Sekundentakt zusammen und auseinander, ein bisschen wie ein Yo-Yo in der Horizontalen. Aber anstrengender. Wer zehn Minuten durchhält, bekommt Muskelkater – und will trotzdem nicht aufhören. "Das Entscheidende ist, dass man sich völlig in ein Spiel vertiefen kann", sagt der Sport- und Bewegungswissenschaftler. Dabei lässt er die rotierende Scheibe nicht aus den Augen.
Harald Lange ist Sportwissenschaftler an der Universität Würzburg. Sein Schwerpunkt liegt unter anderem auf Bewegungserziehung, seine Leidenschaft gehört dem Spielen. Bei beidem haben die meisten Deutschen aus seiner Sicht Defizite. Erst vergangenes Jahr hat eine Langzeitanalyse gezeigt, dass sich 80 Prozent der Kinder zu wenig bewegen. Ähnlich sieht es laut Weltgesundheitsorganisation bei Erwachsenen aus. Leicht ist das vermutlich nicht zu ändern, oft fehlt einfach die Lust. Was aber, wenn Bewegung Spaß macht? Wenn sie spielerisch funktioniert?
Genau darum geht es Lange: Er sucht gutes Spielzeug. Bei rund 120 000 Neuheiten, die allein in diesem Jahr auf der Spielwarenmesse in Nürnberg präsentiert wurden, ist das keine einfache Aufgabe. "Vier Punkte sind entscheidend: Ich muss es unkompliziert benutzen können, es muss Spaß machen, ich muss mich immer mehr in das Spiel vertiefen und mir im Laufe der Zeit neue Funktionen erschließen können." Was zu einfach ist, wird langweilig. Was keine Freude macht, verstaubt in der Ecke des Kinderzimmers. "Jedes Spielzeug braucht eine gute Idee", sagt der Familienvater und lässt die rote Scheibe langsam auspendeln. "Dieses hier ist richtig innovativ." Das Fitnessgerät erinnert an Übungen mit dem Gymnastikband, "aber man muss darauf achten, dass die Scheibe in Rotation bleibt – das ergibt den Spieleffekt".
Um solche Spielzeuge zu finden, hat Lange 2015 als Spielzeugtester angefangen. "Es war eine Art Pilotprojekt", sagt der 51-Jährige. Die Idee kam ihm auf einer Zugfahrt, die Frage, wie man sich im Spielzeug-Dschungel zurechtfinden könnte, beschäftigte ihn schon lange. "Wir haben dann einfach mit 20 Geräten die Tests angefangen."
Mehr als 300 Produkte von über 80 Unternehmen tragen das Würzburger Spielesiegel
Zu Beginn bestand seine Gruppe von Würzburger Spielzeugtestern vor allem aus Familien von Kollegen und einigen Studenten. Inzwischen ist daraus das Institut für Bewegungsbildung und Bewegungsforschung (InBuB) geworden. Dazu gehört ein Netzwerk mit rund 30 Familien sowie Schulen und Kindergärten, die regelmäßig Spielzeuge testen und den für gut befundenen Produkten das Qualitätssiegel "Bewegte Innovation" verleihen. "All das muss kostenlos und ehrenamtlich funktionieren, damit keine Abhängigkeiten entstehen." Etwa 50 Spielzeuge werden so pro Jahr von Lange und seinen Testern bewertet. Mehr als 300 Produkte von über 80 Unternehmen tragen mittlerweile das Siegel.
Die Zentrale der Spielzeugtester liegt in Langes Heimat bei Kassel. Dort lebt der 51-Jährige mit seiner Familie, eine alte Scheune hat er zur riesigen Spielhalle umgebaut. 200 Quadratmeter Fläche, zwei Ebenen, mit Matten, Schaukel, Kletterwand, Turngeräten und natürlich unzähligen Spielsachen. "Wenn ich Kind wäre, würde ich da gerne spielen", sagt Lange und lacht. Sogar eine Tribüne gibt es, "dort kann ich sitzen, beobachten und mir Notizen machen".
Die Rolle des Wissenschaftlers verschwimmt so häufig mit der des Vaters. Eindrücke beider Perspektiven mischen und ergänzen sich. Für Lange ist das kein Problem, kein Konflikt. Seine siebenjährige Tochter agiere begeistert als Cheftesterin. "Mir ging es als Wissenschaftler immer darum, Innovationen zu finden", sagt Lange. Das gelte auch als ehrenamtlicher Spieletester. Geld bekomme er dafür nicht. Aber "je mehr ich mich mit dem Projekt befasse, desto lieber spiele ich selbst".
Wie aber läuft ein Test ab? Teilweise würden Hersteller Lange bitten, ihr Produkt zu testen. "Es kann aber auch sein, dass ich im Zug sitze und mein Nachbar spielt etwas, das ich noch nicht kenne und spannend finde – dann muss ich das haben", sagt der Wissenschaftler. Geliefert werden die Produkte an die Zentrale bei Kassel, von dort verteilt Lange sie an die Familien.
In der Regel werde ein Spielzeug immer in vier verschiedenen Familien gleichzeitig getestet, insgesamt drei Monate lang. Die Order dabei: Alles so normal wie möglich. "Wir testen bewusst nicht im Labor, mit weißen Kitteln und klinisch sauberen Bedingungen", sagt Lange. Sondern in der Umgebung, in der gespielt wird. Lange besucht die Familien in dieser Zeit mehrmals, beobachtet und befragt, versucht herauszufinden "welchen Platz das Produkt perspektivisch im Kinderzimmer einnehmen würde". Oder anders gefragt: Wie gut ist das Spielzeug?
Die Würzburger Tester zeichnen den Spiel- und Bewegungswert aus, nicht die Sicherheit
Am Ende stehe "kein naturwissenschaftlich exaktes Messergebnis, sondern eine qualitative Einschätzung", sagt Lange. Dieses kurze Gutachten formuliert der 51-Jährige aus der Bewertung der Tester und eigenen Eindrücken und stellt es den Herstellern zur Verfügung. Befinden die Würzburger Spieletester ein Produkt für wirklich gut, bekommt es das Siegel "Bewegte Innovation".
"Manche Hersteller werben damit", sagt Lange. Andere nutzen die Informationen nur intern. Grundsätzlich gilt: "Es wird niemand an den Pranger gestellt. Welches Spielzeug durchfällt, wird nicht veröffentlicht". In negativer Erinnerung geblieben ist ihm zum Beispiel eine Art Hindernisparcours für Kindergärten, eine Waldlandschaft. Komplett aus Plastik. Alle Tester hätten das Produkt abgelehnt. Konsequenzen drohen den Herstellern in so einem Fall nicht. "Wir machen keine Aussagen zur Sicherheit oder möglichen Gefahren", sagt Lange. Dafür sei der TÜV zuständig.
In den Regalen in Langes Büro stapeln sich Fachbücher. Ein Fahrrad steht neben dem Schreibtisch, durch das geöffnete Fenster zwitschern Vögel. Harald Lange nimmt es kaum wahr. Er ist vertieft "in ein geniales Spiel". Drei aufgestellte Glasebenen mit quadratischen Löchern bilden dabei das Spielfeld. Wie auf den Spielkarten abgebildet, müssen kleine Holzwürfel mit bunten Ziffern und Symbolen in die Ebenen geordnet werden. "Kinder lernen so räumliches Denken", sagt Lange und schiebt eine grüne Sonne in die richtige Position. Auf Zeit gespielt, erhöht sich die Schwierigkeit.
Bereits 2018 hat er das Spiel ausgezeichnet, künftig soll es weiterentwickelt werden. "Es gibt die Idee, das Spiel überlebensgroß in Fußgängerzonen und Parks zu installieren". Zum Durchlaufen für Kinder und Erwachsene, um Bewegung in den Alltag zu bringen. Ein Musterbeispiel dessen quasi, worum es Lange geht.
Andere Lieblingsspielzeuge lagern im Mini-Spielelabor in Würzburg. Der Raum direkt neben der Turnhalle der Sportuni ist bis zur Decke vollgestopft. Einräder, Balanceplatten, Pedalos, Bälle. Harald Lange zieht ein Wackelbrett mit Basketballkorb-ähnlichem Aufbau aus dem Regal und stellt sich darauf. Selbst ausprobieren gehört als Tester immer dazu. Und selbst ein Spiel erfinden? Nein, sagt Lange. Das reize ihn nicht. Aber die Produkte zu verbessern, sie gemeinsam mit den Firmen weiterzuentwickeln, das will er.
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Das Brett unter Harald Lange schwankt. An dem Aufbau pendelt eine Kugel am Seil, sie soll durch gezielte Bewegungen im Körbchen landen. Klingt einfach, ist es aber nicht. Lange verlagert sein Gewicht nach rechts, schiebt die Hüfte schnell zurück nach links. Die Kugel schwingt über den Korb, kreiselt wild. Lange kippt vom Brett und schüttelt den Kopf. Schnell steigt er wieder auf, sucht sein Gleichgewicht, ruckelt, steuert gegen und die Kugel landet im Eimer. Der Wissenschaftler jubelt. "Egal ob es gelingt oder nicht, das hier macht einfach Spaß." Genau darum geht es beim Spielen.