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Würzburg
Telefonseelsorge im Corona-Jahr: Die Ängste der Anrufer
Was hat die Leiterin der Telefonseelsorge Würzburg/Main-Rhön im Corona-Jahr 2020 erlebt? Ruth Belzner über die Anliegen der Anrufer, Hilfsangebote und ihren Blick auf 2021.
Sie und ihre ehrenamtlichen Mitarbeiter hatten 2020 viel zu tun: Ruth Belzner, Leiterin der Telefonseelsorge Würzburg/Main-Rhön, in ihrem Würzburger Büro.
Foto: Patty Varasano | Sie und ihre ehrenamtlichen Mitarbeiter hatten 2020 viel zu tun: Ruth Belzner, Leiterin der Telefonseelsorge Würzburg/Main-Rhön, in ihrem Würzburger Büro.
Catharina Hettiger
 |  aktualisiert: 10.05.2023 10:22 Uhr

2020 war für alle ein herausforderndes Jahr: Die Corona-Krise hat nicht nur psychisch vorbelastete Menschen an ihre Grenzen gebracht. Dies macht sich auch in der telefonischen Seelsorge und Beratung bemerkbar - sie ist gefragter denn je. Was das zurückliegende Jahr für Ruth Belzner und ihre Mitarbeitenden gebracht hat, erzählt die Leiterin der Telefonseelsorge Würzburg/Main-Rhön im Gespräch mit dieser Redaktion.

Frage: Frau Belzner, wie war Ihr Jahr?

Ruth Belzner: Es war in jeder Hinsicht ein besonderes Jahr – vor allem ab Mitte März, als wir unseren Gruppenbetrieb, also die Ausbildung und Supervision, nicht mehr aufrechterhalten konnten und alle Veranstaltungen absagen mussten. Und wir hatten am Telefon auf einmal unglaublich viel zu tun.

Welche Anliegen hatten Ihre Anrufer in diesem Jahr, ging es häufig um Corona?

Belzner: Ja, in den unterschiedlichsten Facetten: Ängste bezüglich der eigenen Gesundheit, wirtschaftliche Sorgen, Arbeitsplatzverlust durch Corona, das verstärkte Gefühl von Einsamkeit – und Ärger über Maßnahmen der Regierung oder die Rücksichtslosigkeit von Mitmenschen.

Die Telefonseelsorge ist für viele Anrufer eine wichtige, manchmal auch lebenserhaltende Anlaufstelle - das ist die Erfahrung von Leiterin Ruth Belzner.
Foto: Patty Varasano | Die Telefonseelsorge ist für viele Anrufer eine wichtige, manchmal auch lebenserhaltende Anlaufstelle - das ist die Erfahrung von Leiterin Ruth Belzner.

Wie geht man mit einem verärgerten Anrufer um?

Belzner: Unterschiedlich. Was auf alle Fälle nicht zielführend ist: den Anrufer von seinen eigenen Argumenten überzeugen zu wollen, das funktioniert ja auch außerhalb der Telefonseelsorge nicht. Besser wäre, zu sagen: Ich versuche nicht, Sie von einer anderen Meinung zu überzeugen, aber ich teile Ihre Haltung nicht. Manche Anrufer wollen gar keine Reaktion, vor allem wollen sie nicht beruhigt werden; sie suchen schlicht ein emotionales Überdruckventil.

Sind Anrufe zum Thema Corona anstrengender als andere Anrufe?

Belzner: Corona betrifft alle in irgendeiner Form, es macht mit uns allen etwas. Das unterscheidet es von sonstigen Themen. Auch ich merke, dass ich kämpfen muss gegen diesen Mehltau, der sich aufs Gemüt legt.

"Bei vielen Anrufern wirkt Corona wie ein Vergrößerungsglas über alle Probleme."
Ruth Belzner, Leiterin Telefonseelsorge Würzburg/Main-Rhön

Sind durch Corona neue Anrufer dazugekommen?

Belzner: Einige wenige. Bei vielen, die wir schon über lange Zeit regelmäßig hören, wirkt Corona allerdings wie ein Vergrößerungsglas über alle Probleme. 80 Prozent unserer Gespräche sind mit Menschen, die keine Erstanrufer sind. Für manche ist ein Tag, an dem sie nicht mit uns gesprochen haben, kein vollständiger Tag; die Telefonseelsorge ist Teil ihrer Lebensbewältigungsstrategie. Kontakt, gehört werden, sprechen können – das sind menschliche Grundbedürfnisse. Viele Menschen haben das in ihrem Umfeld nicht, was uns zu einer wichtigen, manchmal auch lebenserhaltenden Anlaufstelle macht.

Konnten Sie trotz Corona neue Mitarbeiter gewinnen?

Belzner: Ja, problemlos. Wir hatten im Sommer einen Auswahlprozess, bei dem sich die Leute nicht zu nahe kommen mussten. Im September hat die neue Ausbildungsgruppe mit zwölf Personen angefangen; die Ausbildung läuft ein Jahr. Vor allem im ersten Lockdown haben uns zudem viele Anfragen von Menschen erreicht, die sich sofort ans Telefon setzen wollten, darunter viele aus verwandten Berufen, zum Beispiel Pfarrer und Pfarrerinnen. Wir haben aber entschieden, dass uns solche Angebote wenig helfen.

Warum das?

Belzner: Zum einen müssten wir viel Zeit investieren, um die Leute mit unseren technischen Systemen vertraut zu machen. Zum anderen ist Telefonseelsorge etwas anderes als Gemeindeseelsorge. Man ist mit Leuten konfrontiert, die man nicht sieht und nicht kennt; man weiß nicht, was auf einen zukommt. Wenn ich in einer Gemeinde Seelsorge-Gespräche mit Menschen führe, weiß ich meist einiges über deren Hintergrund. Das Medium Telefon ist außerdem gewöhnungsbedürftig.

Inwiefern?

Belzner: Ich höre den anderen nur, ich sehe an Gestik, Mimik und Körperhaltung nicht, ob dieser Mensch mir noch aufmerksam folgt, ob er mich versteht, ob er etwas anderes nebenher tut. Und: Wenn man dem Anrufenden eine Frage stellt, die ihm unbequem ist, kann er einfach auflegen. Da bleibt man schon zurück mit der Irritation, "hab' ich jetzt einen Fehler gemacht?"

Wie hat sich Corona auf Ihre Mitarbeitenden ausgewirkt?

Belzner: Es gab einzelne Mitarbeiter, die die Gesamtsituation so belastet hat, dass sie sich haben beurlauben lassen. Und es gab andere, die deutlich mehr Dienste gemacht haben als sonst – aus dem ganz banalen Grund: Man konnte ja sonst nicht viel tun. Die reduzierten Möglichkeiten der Freizeitgestaltung wirken sich durchaus positiv auf unsere Besetzung aus.

Was war das Herausforderndste an Ihrer Arbeit in diesem Jahr?

Belzner: Als der erste Lockdown zu Ende war und man entscheiden musste, was machen wir – und was nicht. Ab wann und wie lassen wir unsere Gruppen sich wieder treffen? Welche Veranstaltungen sind möglich? Im Grunde ist die Telefonseelsorge aber eine sehr Corona-kompatible Institution (lacht). Sie besteht aus einer Person am Telefon; und wir wurden von Anfang an als systemrelevant eingestuft. Das Wissen, dass unsere Mitarbeitenden zum Dienst kommen können, selbst wenn man sonst nichts mehr tun darf, war damals eine große Beruhigung.

Hat sich durch Corona auch etwas Positives ergeben?

Belzner: Sicher die verstärkte Nutzung der digitalen Medien. Und: Ich hab' es inzwischen einfach im Gefühl, einen Stuhlkreis mit zwei Metern Abstand zwischen den Stühlen zu stellen (lacht). Was Abstand halten angeht, ist es außerdem nicht verkehrt, auch künftig mehr auf die körperliche Distanzzone der anderen zu achten. Ansonsten reagiere ich persönlich ein bisschen genervt, wenn Leute vom Guten in Corona sprechen: Corona ist überhaupt nichts Gutes, das ist ein Scheiß-Virus. Man kann höchstens gucken, zu welchen Verhaltensänderungen es uns zwingt, die wir nicht nur schlecht finden.

"Die Sorge um ältere Angehörige nicht zu haben, hat mich enorm erleichtert."
Ruth Belzner über ihr Jahr mit Corona

Wie ist es Ihnen 2020 privat ergangen?

Belzner: So komisch es klingt: Ich hab' im März gedacht: Gott sei Dank ist meine Mutter letztes Jahr und mein Vater 2014 gestorben. Die Sorge um ältere Angehörige nicht zu haben, hat mich enorm erleichtert. Ich konnte beide Elternteile bis zuletzt begleiten und richtig schön verabschieden. Die Vorstellung, das wäre nicht möglich gewesen, war ganz schrecklich. Was ich bedaure: An der Pinnwand meiner Wohnung hängen etwa 20 Karten von Konzerten und Veranstaltungen, die ausgefallen oder auf unbestimmte Zeit verschoben sind. Als begeisterte Theater- und Konzertgängerin bedaure ich das, sage aber gleichzeitig: Das ist ein Luxusproblem. Da betrachte ich eher mit Sorge die Menschen, die davon leben. Wie wird die Kulturszene aussehen, und wie wird es den Menschen, die kleine Geschäfte haben oder Soloselbständige sind - das betrifft auch einige Ehrenamtliche in der Telefonseelsorge - nach Corona gehen?

Mit welchem Gefühl starten Sie ins neue Jahr?

Belzner: Ich habe zum Glück, die Fähigkeit, mir erst einen Kopf zu machen, wenn klar ist, dass es Sinn hat. Es wird sicherlich kein einfaches Jahr. Auch die Impfung wird nicht unsere Probleme lösen; vermutlich wird es sogar nochmal richtig schwierig, wenn alle Risikopatienten und systemrelevanten Menschen geimpft sind. Denn dann werden kaum noch Kontaktbeschränkungen und Regelungen durchzusetzen sein. Gleichzeitig gibt ja auf absehbare Zeit noch keine Herdenimmunität. An diesem Punkt könnte das Virus nochmal richtig Fahrt aufnehmen.

So können Sie die Telefonseelsorge erreichen

Die katholische und evangelische Kirche und ihre Wohlfahrtsverbände Caritas und Diakonie sind die Träger der Telefonseelsorge Würzburg/Main-Rhön. Insgesamt sind dort rund 90 Ehrenamtliche tätig und sorgen dafür, dass rund um die Uhr mindestens eine Leitung besetzt ist. Die Telefonseelsorge ist unter Tel.: 0800-1110111 und 0800-1110222 (gebührenfrei von Handy und Festnetz) erreichbar sowie im Chat oder per Mail unter online.telefonseelsorge.de.
Quelle: cat
 
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