Die Isolation während der Pandemie hat gerade Jugendliche aus schwierigen Familien stark getroffen. Die Unterstützung durch Jugendhilfe oder Therapeuten brach weg; manche Kinder fühlten sich in ihrer Familie richtiggehend gefangen. Ein Gespräch mit Ruth Belzner, der Leiterin der Telefonseelsorge Würzburg/Main-Rhön über Folgeschäden und die Notwendigkeit von Änderungen für den Fall eines neuen Lockdowns.
Ruth Belzner: Kinder und Jugendliche rufen grundsätzlich selten an. Aber sie chatten. Wir haben in der Zeit des Lockdowns vermehrt Chats angeboten. Und diese Chatmöglichkeiten wurden stark genutzt. Vor allem 15- bis 19-jährige Jugendliche aus dysfunktionalen Familien haben sich an uns gewandt. Darunter waren zahlreiche Jugendliche mit psychischen Erkrankungen oder Jugendliche, deren Eltern psychisch krank sind. Diese Jugendlichen haben sich während des Lockdowns in ihrer Familie richtiggehend gefangen gefühlt. In etlichen Beratungsfällen ging es auch um sexuelle Gewalt.
Belzner: Sehr groß. Wir reden hier von Jugendlichen, die normalerweise Unterstützung durch eigene Therapeuten bekommen oder deren Familien durch die Jugendhilfe oder die Familienhilfe betreut werden. Die Corona-Kontaktverbote führten dazu, dass diese intensive externe Betreuung nicht mehr möglich war. Einige Jugendliche hat das extrem hart getroffen. Diese Jugendlichen fühlten sich sehr alleingelassen, teilweise fühlten sie sich von der Gesellschaft verraten.
Belzner: Diese Jugendlichen werden sich in Zukunft noch mehr verschließen, noch mehr misstrauen. Sie haben ja jetzt in der Pandemie eingebläut bekommen, dass Nähe, Kontakt und Öffnung zu anderen Menschen unbedingt zu vermeiden ist. Jugendliche aus intakten Familien können die Isolation durch Corona normalerweise gut wegstecken, sogar positiv nutzen. Jugendliche aus dysfunktionalen Familien aber werden jetzt eine sehr gute emotionale Unterstützung brauchen, um das Gefangensein in übergriffigen oder gewalttätigen Familien verarbeiten zu können. Uns als Gesellschaft wird mit einiger Verzögerung gerade erst bewusst, welche seelischen Folgeschäden diese Isolation bringen wird.
Belzner: Ja, absolut! Ich würde sogar noch weiter gehen und sagen, dass, bei aller Wertschätzung gegenüber Senioren, Jugendliche durch die Isolation am stärksten getroffen wurden. Senioren haben ihr Leben weitgehend gelebt; es geht bei ihnen um Gegenwartsfragen. Aber bei Jugendlichen geht es um die Zukunft. Und sie haben jetzt gerade erlebt, dass sie in einer Zeit, wo die Weichen für die Zukunft gestellt werden sollten, nicht gehört wurden, dass sie da hinten runtergefallen sind.
Belzner: Manches lässt sich nicht reparieren. In der Zeit des Lockdowns haben Jugendliche aus starken Familien es geschafft, weiter zu lernen; auch deshalb weil sie die Unterstützung zu Hause hatten, entsprechende digitale Geräte und vielleicht auch Vorbilder hatten. Aber Kinder aus Problemfamilien haben oft gar nicht mehr für die Schule gelernt; und das bedeutet auch, dass nach drei Monaten das vorher Gelernte vergessen ist. Dass betroffene Jugendliche oft verlernt haben zu lernen, auch die Lernmotivation verloren haben. Erschwerend kommt hinzu, dass die Selbstwahrnehmung bei diesen Kids auf einen Tiefstand gesunken ist. Sie haben es als demütigend erlebt, dass die Politik sie nicht sieht. Das haben manche Jugendliche bei den Chats auch explizit thematisiert.
Belzner: In Schweden hat sich die Regierung zu Beginn der Pandemie direkt mit einer Botschaft an die Kinder und Jugendlichen gewandt und hat ihnen gesagt, dass man auf ihre Mithilfe und Unterstützung baue. Das klingt jetzt vielleicht banal, aber bei so einer direkten Ansprache durch Regierungsverantwortliche fühlen sich Jugendliche wahrgenommen und gesehen. Und das ist wichtig. Grundsätzlich muss man überlegen, ob man im Fall eines neuerlichen Lockdowns wirklich wieder so eine Vollbremsung hinlegt oder ob man nicht gerade Hilfsangebote weiterführt. Im Zweifelsfall muss man die Ansteckungsgefahr durch das Corona-Virus einerseits, die sozialen Folgeschäden durch eine rigide Kontaktsperre andererseits gegeneinander abwägen und entscheiden, wie weit die Kontaktverbote gehen sollen.