In einer Zeit, in der ferne Länder für die allermeisten Menschen unerreichbar waren, besuchte ein Ochsenfurter bereits exotische Orte in der Südsee. Carl Schiesser fuhr in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg als Schiffskoch zur See. Aber nicht nur das. Schiesser verfolgte nebenbei seine Leidenschaft als Hobbyfotograf. Seine einzigartigen Aufnahmen aus jener Zeit lagern heute in der Australischen Nationalbibliothek Sydney.
1912 begann Schiessers Überfahrt nach Australien
Carl Schiesser wurde am 23. Februar 1889 als ältester Sohn des Restaurantbesitzers- und Gartenwirtsehepaars Leonhard und Apollonia Schiesser in der Tückelhäuserstraße 343 1/2b in Ochsenfurt geboren. Später wurde Carl Schiesser Koch und zog anschließend nach München, wo er eine Konditorlehre anschloss. Seinen Wehrdienst leistete er von 1908 bis 1910 in der Küche des II. Bataillons beim 2. Königlich Bayerischen Infanterieregiment in München ab. Danach lebte Schiesser kurzzeitig wieder in Ochsenfurt, entschied sich jedoch Anfang 1912 beim Norddeutschen Loyd als Schiffskoch anzuheuern. Die Kosten für die Überfahrt konnte er somit finanzieren.
Am 2. Mai 1912 begann das Abenteuer. Auf dem Frachter SS Scharnhorst, wo er als zweiter Koch arbeitete, reiste er nach Australien. In Sydney kam er auf einer Farm bei Parramatta unter, bevor er sich im Juni 1912 als Chefkoch auf dem Dampfer "Prinz Sigismund" befand.
Hunderte Aufnahmen aus Fernost hinterlassen
Der sicherte mit dem Schwesterschiff "Prinz Waldemar" und dem Dampfschiff "Coblenz" den regelmäßigen Postverkehr auf der Australien-Japan-Linie des Norddeutschen Lloyd in Bremen.
Diese Postnebenlinie führte von Sydney über Brisbane nach Deutsch-Neuguinea und Hongkong mit Verlängerung nach Japan. Die damalige Kolonie Deutsch-Neuguinea wurde durch die Postlinie in vierwöchentlichem Turnus an die Außenwelt angebunden.
Carl Schiesser war nicht nur Schiffskoch, sondern übte auch sein Hobby als Fotograf aus. So hat er hunderte Aufnahmen aus Fernost kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs hinterlassen. Diese Fotos befinden sich heute in zwei Alben im Fundus der Australischen Nationalbibliothek. Die sogenannte Schiesser-Collection beinhaltet einzigartige Aufnahmen.
Schiesser tat von Dezember 1912 bis Mai 1914 seinen Dienst als Schiffskoch auf dem Reichspostdampfer SS "Prinz Sigismund" unter Kapitän Lenz. Dabei war er unter anderem auf der Route zwischen dem japanischen Yokohama und Sydney unterwegs sowie zwischen Sydney und den Städten Hongkong und Kobe, das ebenfalls in Japan liegt.
Schiesser verbrachte Jahre in Internierungslagern
Am 4. August 1914 kehrte die "Prinz Sigismund" aus Japan nach Australien zurück. Noch am selben Tag wollte Kapitän Hurtzig von Brisbane nach Sydney weiterlaufen, jedoch wurde das Ausklarieren vom australischen Zoll verweigert. Dies geschah unter Bruch des internationalen Seerechts, da Deutschland und Großbritannien sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht im Kriegszustand befanden – erst einen Tag später, erfolgte nach der Ortszeit in Australien, die Kriegserklärung an das Deutsche Reich.
Die australischen Behörden wiesen dem Reichspostdampfer im Brisbane River in unmittelbarer Nähe der Brisbane Botanic Gardens (Queen’s Park) einen Liegeplatz zu. Die Mannschaften des Schiffs durften sich am Tag frei in der Stadt bewegen. Doch Anfang Oktover 1914 wendete sich für die deutschen Seeleute das Blatt. Sie mussten ihre Schiffe verlassen und wurden in das "Enoggera Internment Camp" bei Brisbane gebracht.
In diesem eher provisorischen Lager war er jedoch nur einige Monate bevor Schiesser in das größte der australischen Lager eingewiesen wurde: "Holsworthy" in der Stadt Liverpool im Großraum Sydney. Vier Jahre lang war Schiesser in sogenannten Internierungslagern in Haft. Doch das hinderte ihn nicht daran, weiter fotografisch aktiv zu sein.
Der Kontakt nach Deutschland brach nie ganz ab
Teilweise dürften seine Aufnahmen die einzigen aus dem Internierungslager Enoggera bei Brisbane sein. Auch im Lager in Liverpool gab es sicher nur eine Handvoll Fotografen. Die Fotografien aus den Lagern legen nahe, dass seine Interessen neben Aufnahmen von Behausungen, von Kameraden und dem Wachpersonal vor allem dem Sport, dem Theater und handwerklichen Arbeiten galten.
So erwarb er während seiner Internierung zwei Holzarbeiterdiplome und sang im Gesangsverein des Lagers. Während seiner Zeit in der australischen Internierung brach der Kontakt zu seiner Familie nach Deutschland niemals gänzlich ab. Es wurden Briefe und Postkarten ausgetauscht. Vom DRK-Ortsverband Ochsenfurt erhielt Schiesser sogenannte Liebesgaben und Weihnachtspakete. Auch von einem schweren Schicksalsschlag der Familie dürfte Schiesser noch während seiner Internierung erfahren haben. Sein jüngerer Bruder Julius Schiesser wird als Musketier in einem Preußischen Infanterieregiment seit März 1915 während der Winterschlacht in der Champagne vermisst. Ein Schicksal, welches ihm als Interniertem erspart blieb.
Schiesser hielt es nach seiner Rückkehr nicht lange in Ochsenfurt
Anfang 1919 wurde Schiesser mit einem Großteil der anderen Internierten des Lagers Holsworthy nach Deutschland abgeschoben. Vermutlich reiste er auf dem Dampfer "Kursk" nach Deutschland zurück.
Schiesser lebte zunächst wieder in Ochsenfurt im Hause seines Vaters und arbeitete als Konditor. Jedoch zog es ihn schon bald von zu Hause fort. Knapp ein Jahr lebte und arbeitete er in Amberg, dann zog er nach Schweinfurt, bevor er am 9. Mai 1922 mit Anna-Maria Apollonia Ruckert in Ochsenfurt Hochzeit feierte.
Anschließend arbeitete er kurze Zeit als Schreiner im Betrieb seines Schwiegervaters, wozu ihn seine Holzarbeiterdiplome befähigten. Außerdem hielt er in Ochsenfurt mehrere Kochkurse ab. Die inzwischen um zwei Kinder angewachsene Familie lebte zwischen 1923 und 1928 mehrfach abwechselnd in Rothenburg und Würzburg, bevor Carl und Apollonia Schiesser 1930 endgültig nach Darmstadt zogen. Dort arbeitete er zuerst als Konditor in der Konditorei Nikolai und später wieder als Koch. Carl Schiesser starb am 12. April 1966 in Darmstadt, seine Frau Apollonia fünf Jahre später.
Historiker Georg Menig ist Stadtarchiv in Ochsenfurt. Als Gastautor macht er regelmäßig die Ergebnisse seiner Recherchen einem breiten Leserkreis zugänglich. Die Quellen zu Carl Schiesser entstammen dem Stadtarchiv Ochsenfurt, der Australian National Library, Sydney sowie dem Artikel "Das kurze Leben des Frachtdampfers Fürth" von Jürgen Pfeiffer.